Mit einer unabhängigen wissenschaftlichen Studie will die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) analysieren lassen, welche speziellen Risiken für sexualisierte Gewalt es in der Evangelischen Kirche gibt. Grundlage dafür sollen Aufarbeitungsstudien der verschiedenen Landeskirchen sein. Damit dies auch in der Fläche umgesetzt wird, hat die EKD einen fünfköpfigen Beauftragtenrat gebildet, der diese Maßnahmen voranbringen soll. Darüber hinaus ist eine Studie geplant, um das Dunkelfeld von Fällen sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie auszuloten. 479 Fälle sind bei Unabhängigen Kommissionen bekannt geworden. Aber der Beauftragtenrat geht von deutlich mehr Fällen aus. Einen Zeitplan für die Studien gibt es noch nicht.
Insgesamt elf Punkte mit konkreten Maßnahmen hatte die Kirchenkonferenz und der Rat der EKD erarbeitet. Bischöfin Kirsten Fehrs, die dem Rat angehört, stellte diese Punkte der Synode vor. „Aufarbeitung heißt, sich auch emotional der Schuld zu stellen, als Institution, die in systematisch bedingter Blindheit Tätern und Täterinnen zugespielt und Opfer nicht geschützt hat“, sagte sie. Die Folgen für Betroffene von sexualisierter Gewalt seien oft lebenslänglich quälend. Der Verlust des Glaubens gehöre dabei oft zu „den grausamsten Folgen“.
Diakonie gibt eigene Studie in Auftrag
Die EKD will eine zentrale, unabhängige Anlaufstelle außerhalb der Kirche einrichten, an die sich Betroffene wenden können. „Bitte melden Sie sich“, so der ausdrückliche Appell an Betroffene, den auch Heinrich Bedford-Strohm, der Vorsitzende des Rates der EKD, bekräftigte. Für die Aufarbeitung und Prävention setzt die EKD auch auf deren Erfahrungen, um Standards und Qualitätsmerkmale dafür zu diskutieren. Die Landeskirchen sind angehalten, ebenfalls zentrale Meldestellen für Betroffene zu schaffen und eine Meldepflicht für kirchliche Mitarbeiter einzuführen, wenn sie Anzeichen wahrnehmen, dass es zu Übergriffen kommt. Zudem sei zu überprüfen, ob Seelsorger vom Beichtgeheimnis entbunden werden sollten, wenn sie von erlittener Gewalt erfahren.
Weiterhin möchte sich die EKD mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs abstimmen. Mit der Diakonie strebt die EKD ebenfalls eine Zusammenarbeit für die Aufarbeitung an. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie hat auf der Synode seinerseits eine unabhängige Studie angekündigt.
Fehrs machte deutlich, dass Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt die Voraussetzung dafür ist, ihr vorzubeugen. „Man muss wissen, was genau passiert ist, um zu lernen, wie man genau das zukünftig verhindern kann.“ Dabei gehe es nicht nur um Konzepte, sondern „Menschen, die verstanden haben, wie ein Umfeld entsteht, in dem Grenzen missachtet werden und Täter und Täterinnen ihr System etablieren“, sagte Fehrs.
„Eine Kirche, die sich solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr“, betonte die Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck. Christen seien durch dieses Thema in ihrem Grundverständnis herausgefordert. „Es ist eindeutig: Wir haben uns gegenüber Menschen, die sich uns anvertraut haben, schuldig gemacht.“
„Existenzielles Thema“
Für die Einbringung zur Verantwortung und Aufarbeitung bei sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche gab es stehenden Applaus von der Synode. In zahlreichen Wortmeldungen bekundeten Synodale „abgrundtiefe Scham für meine Kirche“. Henning von Wedel, Synodaler aus der Nordkirche, in der es auch zu Missbrauchsfällen kam, betonte: „Der Skandal ist, wie wir als Kirche damit umgegangen sind. Es haben sehr viele davon gewusst. Wir dürfen die Verantwortung nicht auf andere schieben. Der jeweilige Kirchenvorstand, Propst, Personalreferent ist zuständig.“
Am Dienstagabend wird der zuständige Ausschuss das Thema beraten, bevor die Synode am Mittwoch einen Beschluss dazu fasst. Die Präses der Synode, Irmgard Schwaetzer, sagte vor Journalisten: „Die Synodalen stellen sich der Schuld, die die Kirche auf sich geladen hat.“ Das Thema der sexualisierten Gewalt berühre die Kirche existenziell. Sie gestand außerdem ein, dass es besser gewesen wäre, wenn sich das Kirchenparlament früher damit befasst hätte.
Von: Jonathan Steinert