Der Erste Weltkrieg veränderte die Theologie an den Universitäten. Der deutsche Nationalismus und das Preußentum vereinnahmten die „liberale Theologie“ für sich. In dieser Zeit suchte der Schweizer Theologe Karl Barth mit seinen Mitstreitern in der „dialektischen Theologie“ einen neuen Weg zu Gott. Dabei fanden sie zurück zur Bibel.
Im 18. Jahrhundert steckte die Theologie in einer Krise. Die Deutschen suchten im Zuge der Aufklärung Wege, wie der Glaube und das Christentum auch für moderne Menschen relevant bleiben konnten. Einen Ansatz dafür lieferte der wohl berühmteste Theologe des 19. Jahrhunderts, Friedrich Schleiermacher. In seinen Hauptwerken, den „Reden über die Religion“ und der „Glaubenslehre“, stellte er die protestantische Theologie auf ein neues Fundament.
Er schuf seinen Zeitgenossen neue, authentische Wege zum Glauben. Die Religion sei nicht „Metaphysik und Moral“, sondern „Anschauung und Gefühl“. Wahrer Glaube bedeute nicht, bestimmte Aussagen über die Natur der Realität („Metaphysik“) für wahr zu halten oder bestimmte Verhaltensregeln zu befolgen („Moral“), sondern das echte, authentische Erleben des Göttlichen. Der Mensch solle Gott nicht durch von außen oktroyierte Wahrheitsansprüche, sondern in seine Innersten erleben.
Glaube wurde wieder salonfähig
Was bei Evangelikalen Proteste auslösen könnte, war für die Menschen dieser Zeit eine Erlösung. Schleiermacher machte den Glauben salonfähig und deutete das Fundament der Theologie um. Er wird deshalb oft als „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet. Die Erlösung forderte aber einen Preis: sie ging weg von externen Wahrheitsansprüchen, hin zum Menschen und seinem frommen Bewusstsein. Das Christentum war für ihn die wahre Religion, weil der Mensch Gott in dieser Religion in den reinsten Gefühlen begegnen konnte.
Für Schleiermacher war dem Menschen die Möglichkeit, Gott zu hören, quasi in die Wiege gelegt. Sünde und Gottferne klammerte er eher aus. Das griffen andere auf.
Wenn der Mensch schon ein funktionierendes Gottesbewusstsein hat, dachten manche Theologen, brauche es auch keine jenseitige Rettungstat eines transzendenten Gottes mehr. Für Albrecht Ritschl etwa war vor allem das ethische Handeln der Christen wichtig. „Christ und „Bürger“ wurden beinahe zu Synonymen. Für Deutschland bedeutete das, dass die liberale Theologie patriotisch wurde. Gott baute sein Reich in der preußisch-bürgerlichen Gesellschaft.
Als sie diese Gesellschaft bedroht sahen, meldeten sich die Theologen zu Wort. Im „Manifest der 93“ richteten sich führende deutsche Wissenschaftler 1914 einen „Aufruf an die Kulturwelt“. Er richtete sich gegen die „Lügen und Verleumdungen“, mit denen die Feinde Deutschland beschmutzten. Deutschland habe den Krieg weder verschuldet noch gewollt. Das Manifest rühmt die Friedensliebe des Kaisers. Unterzeichnet haben es namenhafte Theologen der liberalen Schule wie Adolf von Harnack. Für manchen von ihnen war das Projekt des Reiches Gottes selbst gefährdet, das sie mit dem liberalen, bürgerlichen Projekt identifizierten.
Erste Zweifel an der liberalen Theologie
Der Schweizer Karl Barth kam als entschiedener Anhänger der liberalen Theologie zum Studium nach Berlin und Marburg, zwei Hochburgen der liberalen Theologie. Schleiermacher sah er als „wahren Erben der Reformatoren“. Nach seinem Studium übernahm Barth seine erste Pfarrstelle in der Schweizer Arbeitergemeinde Safenwil. Dort kamen ihm erste Zweifel an der dieser Tradition. Er sah, wie seine Gemeindemitglieder um das tägliche Überleben kämpften. Barth erlebte „eine Bekehrung zur Sache des Sozialismus“ und trat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz bei.
Entsetzt war Barth, dass ein Teil seiner Lehrer das „Manifest der 93“ unterzeichnet hatte. Er brach mit der liberalen Theologie, weil er nicht glauben konnte, dass sich Intellektuelle mit der „Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II.“ identifizierten: „Ich habe eine Götterdämmerung erlebt (…) wie Religion und Wissenschaft restlos sich in geistige 42 cm Kanonen verwandelten“, schreibt er in seinen Erinnerungen. „(Ich wurde irre) an der Lehre meiner sämtlichen Theologen in Deutschland, die mir durch das, was ich als ihr Versagen gegenüber der Kriegsideologie empfand, rettungslos kompromittiert erschienen.“
Für Barth hatte die liberale Theologie ethisch versagt. Auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen konnten also nicht in Ordnung sein, schloss er. Was er bisher grundsätzlich für glaubwürdig hielt, kam bis auf die Grundlagen ins Schwanken. Die liberale Theologie hatte nicht verhindern können, dass bürgerliche und sogar völkische Ideologie in ihre Rezeption des Evangeliums eindrangen. Polemisch und vernichtend fällt die Kritik aus, die er gegenüber seinem Freund Eduard Thurneysen an ihr formulierte: „Die absoluten Gedanken des Evangeliums werden einfach bis auf weiteres suspendiert, und unterdessen wird eine germanische Kampftheologie in Kraft gesetzt…“
Barth war nicht der Einzige, aber der Lauteste
Die liberale Theologie als solche war nicht diese Kampftheologie, aber sie hatte nichts, womit sie sich gegen die, die sie zu ihr machen wollten, verteidigen konnte. Ihr Fundament war für Barth porös – es musste niedergerissen werden.
Gelegt hatte diese Fundament Schleiermacher, wenn auch unabsichtlich. Barth war sich sicher, dass Schleiermacher das Manifest nie unterschrieben hätte. Deswegen nahm er ihn von der ideologischen Kritik aus, sah aber doch in sei Theologie „vom Menschen her“ die Wurzel allen Übels. Barth war nicht der einzige, aber der lauteste Kritiker.
Seine Gedanken waren federführend für die neue Bewegung der „dialektischen Theologie“. Gemeinsam mit Theologen wie Eduard Thurneysen, Emil Brunner, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann entwickelte er einen neuen Zugang zu Gott. Dabei half ihm paradoxerweise auch der Krieg. Dessen verheerende Folgen zerstörten den deutschen Fortschrittsoptimismus. Das Projekt des „Reiches Gottes auf Erden“ schien gescheitert. Stattdessen waren die unterlegenen Deutschen radikal mit ihrer eigenen Gebrochenheit und der Unvollkommenheit der Welt konfrontiert.
Der Krieg und seine Folgen bedeuteten für Deutschland eine Krise. Unter anderem deshalb wird die dialektische Theologie auch die „Theologie der Krisis“ genannt. Besser bekannt ist sie als „Theologie des Wortes Gottes“. Barths Grundgedanke war, dass Gott radikal anders ist und mit dem Menschen nichts gemein hat. Der Mensch kann ihn nicht von sich aus erschließen. Sollte er es versuchen, wird er immer nur auf seine eigene Gebrochenheit und Sündhaftigkeit zurückverwiesen. „Religion ist Unglaube“, erklärte Barths. Schleiermacher habe verkannt, dass Religion „nur von einer Realität [redet]: von der Realität der Sünde“.
Der Mensch kann Gott nicht erkennen. Er ist in seiner Gebrochenheit gefangen. Doch es folgt das entscheidende Aber. In dieser Situation macht sich Gott selbst dem Menschen bekannt. Wenn der Mensch erkennt, dass er nicht zu Gott kommen kann, kommt Gott zu ihm und spricht sein rettendes Wort in die Unerlöstheit hinein, das Jesus Christus heißt.
Gottes Wort kommt „senkrecht von oben“
Der vielleicht berühmteste Ausspruch Barths lautet, dass das Wort Gottes „senkrecht von oben“ zu den Menschen kommt. Der Mensch kann dazu nichts beitragen. Wo Schleiermacher noch dachte, dass der Mensch nur von Gott sprechen könne, indem er von sich selbst spreche, war Barth noch radikaler: Nur Gott kann von Gott sprechen. Menschen können es erst in zweiter Linie, weil Gott in Gnade sein Wort gegeben habe. Aber dieses Wort steht zuerst. Es setzt sich selbst. Der Mensch kann es nicht selbst sprechen. Er kann nur antworten.
In dieser Spannung verortet Barth die Theologie radikal neu. Er macht gerade diese Spannung zu ihrem Gegenstand. In seinem berühmten Aufsatz „das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“ schreibt Barth 1922: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben“. In der Spannung von Sollen und Nicht-Können hat Barth den Krieg erlebt.
Mit seinem berühmten Kommentar zum Römerbrief löste er ein „wissenschaftliches Erdbeben“ aus. Der Weg führte ihn und die dialektische Theologie radikal zurück zur Bibel. Er selbst nahm es so wahr, dass er der bürgerlich-deutschen Theologie den Römerbrief „ins Gesicht schmetterte“. Auch Paulus, so Barths Tenor, habe die Andersartigkeit Gottes gesehen und in seinen Briefen beschrieben. „Gott ist im Himmel, du bist auf Erden“, lautete die Kernaussage. Gott habe sich zwar in seinem Wort Jesus Christus offenbart, aber die Offenbarung Gottes sei eine negative.
Bombe der Gottesoffenbarung in unserer Welt geplatzt
Barth beschreibt die Gottesoffenbarung in einer Kriegsmetaphorik. Für ihn hinterlässt sie in unserer Welt nur „Einschlagstrichter und Hohlräume“. Die Bombe der Gottesoffenbarung sei in unserer Welt geplatzt, aber sichtbar zurück bleibe nur der Krater. Nur diese Leere verweise in der Welt selbst auf Gott.
Nur durch die Auferstehung Jesu Christi können wir von Gott reden, meinte Barth. Aber auch sie ist eine negative Offenbarung. Sie geschieht zwar in unserer Welt, aber sie berührt sie nur „wie die Tangente den Kreis. Sie berührt sie, indem sie sie nicht berührt, und gerade darin berührt sie sie als andere, als neue Welt“, erklärt Barth. Das leere Grab ist der Krater.
In der Welt selbst findet der Mensch also nur das „Nein“, das ihn immer neu auf das „Ja“ Christi verweist. Das „Ja“ hört er durch das „Nein“ hindurch. Diesen Gegensatz, diese Dialektik, muss der Mensch aushalten. Der Krieg war für Barth die höchste Ausformung des „Nein“. Doch er und seine Mitstreiter haben gerade darin das „Ja“ Gottes gehört.
Die dialektische Theologie als einheitliche Bewegung existierte nur bis 1933. Dann gingen ihre Mitglieder, konfrontiert mit dem Nationalsozialismus, getrennte Wege. Barth schrieb seine monumentale 30 Bände umfassende „Kirchliche Dogmatik“. Bis heute unbestritten ist die Bedeutung des streitbaren Theologen.
Seine Stellung als einer der wichtigsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts festigte er in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Theologie des Wortes Gottes war die einzige, die der Gleichschaltung der Kirchen durch die Nationalsozialisten effektiven Widerstand leisten konnte. Sie hatte keinen Platz für einen „deutschen Jesus“. Barth wurde so zum „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“ – und steht damit doch wieder in Kontinuität zu Schleiermacher.