Es gibt viele Berichte von Überlebenden des Nazi-Horrors. „Geborgen im Schatten deiner Flügel“ sticht insofern heraus, dass es der Bericht einer Jüdin ist, die fest an Jesus glaubt. In ihrem lebendig erzählten Bericht verfolgt der Leser den beginnenden Terror der systematischen Drangsalierung von Juden und schließlich das fanatische Morden an Millionen von unschuldigen Menschen unmittelbar mit.
Anita Dittman schreibt über den zwölf Jahre andauernden „Albtraum“: „Unter all diesen unglücklichen und flüchtenden Juden war ich eine der wenigen, die ein wahres Zuhause besaß. Denn ich lernte Jesus kennen, der inmitten dieses ganzen schrecklichen Chaos’ seinen Frieden bot. Nicht umsonst wird er auch der ‚Friedefürst‘ genannt.“
Ihre Mutter war auf eine christliche Schule in Deutschland gegangen und hörte so zum ersten Mal von Jesus. Außerdem lud die katholische Familie, die über ihnen wohnte, die kleine Anita ein, mit zum Gottesdienst zu kommen. Später bekehrte sich das Mädchen dann ganz zu Jesus. Eindrücklich erfährt der Leser, wie sich währenddessen die finstere Macht des Demagogen Adolf Hitler mehr und mehr im Land ausbreitete. „Die Sozialisten und Sozialdemokraten waren davon überzeugt, dass sich schon bald zeigen würde, wie inkompetent Hitler tatsächlich war.“ Doch alle sollten sich täuschen. Bis zum letzten Tag muss es offenbar Menschen gegeben haben, die ihre Hoffnung auf Hitler setzten wie auf einen göttlichen Erlöser.
Das Bild Hitlers hing überall, schreibt Dittman. „In unserem Klassenzimmern, auf Straßenplakaten, und später sogar in der Kirche. Jeden Morgen betete unsere Lehrerin, Frau Kinzel, in Richtung seines Bildnisses. Ihre Worte klingen noch immer in meinen Ohren nach: ‚Lieber Gott, schütze unseren Führer. Mach ihn stark. Lehre uns, ihn zu lieben. Möge er viele Jahre siegreich regieren.‘“ Eine besondere Rolle in jener Zeit spielte für das verängstigte Mädchen der Pastor der lutherischen Bethanien-Schule in ihrem Wohnort Breslau, Ernst Hornig. Er und seine Frau „waren besonders bemüht, jüdischen Gläubigen zu helfen. Sie versuchten auch, sie für ein Leben mit Jesus Christus zu gewinnen und ihnen zu helfen, Deutschland zu verlassen.“ Ein einzelner Lichtblick in einer Welt der Finsternis, die von Hass gegen Juden durchtränkt war. Er gab ihr vor allem geistlichen Rückhalt und bestärkte sie in ihrem Glauben.
Auch wenn der Leser bereits andere persönliche Berichte aus jener Zeit kennen mag, so macht jede einzelne neu betroffen. Auch in Dittmans Buch muss man mehrmals schlucken. Doch hier strahlt zusätzlich über allem eine unbezwingbare und stetig wachsende Hoffnung eines kleinen, jüdischstämmigen Mädchens auf Jesus und Gottes Zusage, ihr auch im finsteren Tal beizustehen. Und in der Tat stellt sich der (Über-)Lebensbericht als eine einzige Ansammlung von göttlichen Wundern dar.
So traf sie oft in brenzligen, und eigentlich ausweglos erscheinenden Situationen zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Menschen, die ihr helfen konnten. Im Arbeitslager hatte sie Freunde, die ihr mit ihren eigenen kargen Essensrationen aushalfen, als sie zunächst an Gelbsucht erkrankte und später an einer Entzündung ihres Beines litt. Als sie in einem Krankenhaus eigentlich von einer Nazi-Krankenschwester durch Gift langsam getötet werden sollte, entkam sie dem Tod nur durch die Hilfe einer Freundin, die zufällig ebenfalls dort lag. Und wie durch ein Wunder traf sie nach Kriegsende einen jungen deutschen Soldaten, der ebenalls gläubig war und ihr half, den heranstürmenden Russen zu entkommen.
Judenverfolgung aus Sicht einer Christin
Immer wieder fällt in dem Buch die Willkür auf, mit der die Nazis die Juden drangsalierten. Während einige Mitglieder einer jüdischen Familie verhaftet wurden, blieben andere unbehelligt. Der Horror sollte wohl dadurch perfektioniert werden, dass jeder Betroffene ein Fünkchen Hoffnung behalten sollte, dass es ihn eventuell nicht erwischt – nur um am Ende dann doch enttäuscht zu werden. Niemals erfuhren die Hinterbliebenen, wohin eine (völlig grundlos) verhaftete Person gebracht wurde. Dittman schreibt: „Kamen die Gefangenen in ein Gefängnis oder ein Konzentrationslager? In ein Arbeitslager oder in eine Gaskammer oder in einen Wald zu einem Erschießungskommando? Da man nicht wusste, wohin, war die Angst in Verbindung mit den Verhaftungen geradezu lähmend.“ Anitas Mutter wurde ins KZ Theresienstadt gebracht, sie selbst ins Arbeitslager Schmiegrode. Die bange Frage, ob sie ihre Mutter jemals wiedersehen wird, zieht sich als roter Faden durch das Buch.
Abgesehen vom fesselnden Sprachstil ist das Buch besonders deswegen wertvoll, weil hier eine gläubige Christin all das erlebt, was Millionen Juden angetan wurde, von denen viele ihren Glauben an Gott verloren. „Es war, als ob Dämonen aus der Hölle in der Luft über Deutschland tanzten. Manchmal dachte ich, Gott wäre so traurig über den Hass der Menschen, dass er Deutschland für eine Weile verlassen hatte. Vielleicht sah er in der Art auf die Erde und dieses Land hinab, wie er es einst bei der Kreuzigung seines Sohnes getan hatte – er ließ dem Bösen seinen Lauf.“ Jene Zeit muss den Opfern damals – wie dem Leser heute –vorgekommen sein wie ein absurdes, grausames Theater, das man nicht versteht, aber in dem man selbst mitten drin steckt. Der für das Buch titelgebende Vers Psalm 57,2 bewahrheitet sich jedenfalls für Anita Dittman auf fast unglaubliche Weise: „Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! Denn auf dich traut meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis das Unglück vorübergehe.“
Zur Mahnung können die Worte des besagten Pastors Hornig herausgehoben werden: „Wie könnte ich mich gegen dieses Volk wenden, das meine kostbare Bibel geschrieben hat und aus dem mein Erlöser hervorkam? Die Juden sind Gottes Augapfel. Deutschland hat Gottes Volk Schaden zugefügt und deshalb wird es nie mehr so sein wie zuvor.“
Anita Dittman/Jan Markell: „Geborgen im Schatten deiner Flügel Die wahre Geschichte eines jüdischen Mädchens, das auf der Suche nach seiner Mutter durch Hitlers Hölle ging“, Gerth Medien, 256 Seiten, 18 Euro, ISBN 3957344972