pro: Die Anglikanische Staatskirche von England unterstützt gemeinsam mit der Evangelischen Allianz das evangelistische Projekt „Advance 2020″. Wie kommt das?
Roland Werner: Das hat zwei Gründe. Einmal erlebte die Kirche von England in den Achtzigerjahren einen finanziellen Crash, bei dem die Kirche ziemlich viel Geld verlor. Die Kirche von England hatte in den Aktienmarkt investiert und damit sehr viel Geld verloren. Meine Gesprächspartner in England sagen, das sei ein versteckter Segen gewesen, weil es plötzlich nicht mehr aus finanziellen Überlegungen heraus attraktiv war, Pfarrer zu werden. Theologie studierte, wer ein persönliches, geistliches, missionarisches Anliegen hatte. Ein anglikanischer Pfarrer verdient darüber hinaus weniger als ein beamteter Pfarrer in Deutschland. Zum Crash gesellte sich zum Zweiten noch ein charismatisch geprägter Aufbruch in großen Teilen der Kirche von England. Missionarische Kirchengemeinden wie St. Aldate’s in Oxford, Michael le Belfrey in York, St. Andrew’s in Chorleywood und auch Holy Trinity Brompton – dort wurde der Alpha-Kurs entwickelt (Kurs über die Grundlagen des christlichen Glaubens; Anm. d. Red.) – und All Saints in London mit dem evangelikalen Vordenker John Stott und ähnliche Gemeinden haben eine solche Ausstrahlung in die ganze Anglikanische Kirche gehabt, dass sehr viele heute aktive Pfarrer und Bischöfe aus diesen Gemeinden hervorgegangen sind und die Kirche von England missionarisch prägen.
Welche Rolle spielt das geistliche Oberhaupt der Kirche von England, der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, bei den missionarischen Bemühungen?
Er ist durch die Alpha-Kurse von Holy Trinity Brompton zum Glauben gekommen. Diese Gemeinde ist enorm missionarisch ausgerichtet und ist bis heute ein sehr einflussreiches Zentrum mit vielen Tochtergemeinden. Auch der Bischof von Islington, Ric Thorpe, dessen Kernaufgabe die Förderung von Gemeindeneugründungen ist, hat seine geistige Heimat in der Holy Trinity Brompton. Wir sehen an der Anglikanischen Kirche, dass bis in die Bischofsebene hinein missionarisches Christsein gepaart mit starker evangelikal, alphakursgeprägter, charismatischer Offenheit, prägend ist. Solche starken Grabenkämpfe zwischen charismatischer Bewegung und Evangelikalen, wie wir sie noch bis vor kurzem in Deutschland hatten, gab es in Großbritannien nicht.
Was muss man wissen, wenn man von „der“ Kirche von England spricht?
Traditionell hat die Kirche von England, die Anglikanische Kirche, drei Hauptströme. Es gibt die liberale Strömung, die Broad Church, die stark von einer der so genannten Aufklärung verpflichteten Theologie geprägt ist und die Betonung vor allem auf die sozialen und politischen Aspekte des Evangeliums legt. Sie ist weder evangelikal noch traditionell hochkirchlich. Heute wird dieser Strang immer mehr zu einer Minderheit. Dann gibt es zweitens die hochkirchliche, anglo-katholische Tradition. Dieser Zweig ist in vielen Formen und auch in der Theologie sehr nahe an römisch-katholischen Formen und Überzeugungen. Diese Richtung hat im 19. Jahrhundert neuen Aufschwung bekommen und macht nach meiner Einschätzung etwa 30 Prozent innerhalb der Anglikanischen Kirche aus. Als Drittes gibt es in England seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine sehr starke evangelikale Bewegung. Evangelikal in der Anglikanischen Kirche versteht sich als Low Church. Die ist bei den Menschen, hat eine starke Beteiligung der Laien, jeder liest die Bibel. Der methodistische Aufbruch des 18. Jahrhunderts und weitere missionarische Aufbrüche hatten einen sehr großen Einfluss auf die Staatskirche. 50 Prozent und mehr der Anglikanischen Kirche sind in diesem Sinne evangelikal.
Woher kommen diese Unterschiede, wenn sie sich doch unter einem Dach finden?
Das liegt in der Geschichte begründet. 1529 kam es unter Heinrich VIII. zu Streitigkeiten zwischen dem englischen Thron und dem Papst in Rom über die Rechtmäßigkeit der königlichen Ehen. Die Bischöfe Englands erklärten, dass sie in ihrem König Heinrich und nicht im Papst das Oberhaupt der englischen Kirche sahen, womit sich die englische Kirche von Rom lossagte. Die anglikanische Kirche etablierte sich somit als Nationalkirche, in die sehr bald reformatorische Elemente mit aufgenommen wurden. Die Anglikanische Kirche kann in der Optik römisch-katholisch erscheinen, die Bischöfe tragen ihre Mitren und den Bischofsstab. Dem Geiste nach ist sie aber eher reformiert-evangelisch, geprägt durch die so genannten 39 Artikel von 1563 und das Book of Common Prayer von 1539.
Gibt es Kritikpunkte?
Man kann durchaus kritisch auf die Anglikanische Kirche schauen und sagen, dass manche Pfarrer theologisch nicht so umfassend gebildet sind, da sie oft im ersten Studium etwas völlig anderes studieren und ihre theologische Ausbildung dann aus deutscher Sicht relativ kurz ist. Die alten Sprachen sind im Theologiestudium im Vereinigten Königreich nicht so wichtig wie hier. Das hat aber auch den positiven Effekt, dass ganz viele, die zunächst einen anderen Beruf hatten, in einem zweiten Schritt Pfarrer werden, was zu einer höheren Volksnähe führen kann. So empfinde ich dort häufig eine starke Erdung vorhanden. Ich habe den Eindruck, dass Engländer in vielem pragmatischer sind als wir Deutschen. Die Predigten sind häufig eher lebensnah und praxisorientiert. Das geht bis in die Leitungsebenen der Kirche hinein. Die Theologie hat nicht die Dominanz wie hier bei uns.
Wie ist es denn nun um die Anglikanische Kirche bestellt?
Die Anglikanische Kirche befindet sich meinem Eindruck nach sowohl in einem Aufbruch und gleichzeitig in einem Abbruch. Spricht man mit Engländern, kann man hören: „Unsere Kirche ist am Ende.“ Es gibt im Vereinigten Königreich mehr leerstehende Kirchengebäude als bei uns. Die vorhin genannten geistlichen Aufbrüche und Gemeindegründungen innerhalb der Anglikanischen Kirche sind eine starke Realität, aber auf das ganze Land gesehen sagen mir meine anglikanischen Freunde, dass die Kirche in Deutschland durch das flächendeckende Volkskirchensystem noch besser repräsentiert seien. In England erreicht die Staatskirche viele Orte nicht mehr. Das ist wohl auch ein Grund für solche Initiativen wie Advance 2020. Dass die Kirche Mitglieder und Territorium verliert, hat man allerdings in England spätestens Anfang der Neunzigerjahre erkannt und hat ganz gezielt nach „Fresh Expressions of Church“ – neuen Ausdrucksformen von Kirche – gesucht. Hier liegt auch die Inspiration für die „Fresh X“ Bewegung in Deutschland. Das ist ein Versuch der Kirche, diese verloren gegangenen Räume wieder zu gewinnen. Dies versucht sie auf viele kreative Weisen und mit neuen Formen.
Was ist der Kern von „Fresh X“ ?
„Fresh X“ hat die Idee, in die Lebenswelt der Menschen hineinzugehen und genau dort Gemeinde zu bauen und zu leben. Wenn du Skater erreichen willst, dann musst du den Gottesdienst in die Halfpipe verlegen. Die Idee ist also nicht, dass eine bestehende Ortsgemeinde zu „Fresh X“ wird, sondern dass am Rande einer Ortsgemeinde für Menschen, die man sonst nicht erreicht, neue Formen gefunden und entwickelt werden und dafür Personal abgestellt wird. Und das ist dann eine vollwertige Gemeinde und ein legitimer, aber „frischer“ Ausdruck von Kirche in einer bestimmten Zielgruppe und Lebenswelt. Die Theorie, dass die Ortsgemeinde für alle ist, vom Baby bis zur Oma, ist damit aufgegeben. Wir neigen dazu, eine Gemeinde erst dann als wirkliche Kirche zu akzeptieren, wenn das Angebot alle Gruppen umfasst. Doch das ist ja meist nur Theorie – auch in unseren „Hauptgottesdiensten“ am Sonntagmorgen und in unseren sonstigen Angeboten erreichen wir nur eine sehr eingeschränkte gesellschaftliche Gruppe. Wir können also von dieser „fresh X“-Bewegung lernen, dass es darauf ankommt, den Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit zu begegnen und so Jesus dahin zu bringen, dass sie merken: Christsein ist eine echte Alternative für mein Leben. Und wenn das nicht nur Einzelne erfahren, sondern ganze Gruppen, können neue Formen von Gemeinde entstehen.
Gibt es derlei Überlegungen auch in Deutschland?
Was Michael Herbst und das Institut für die Erforschung von Evangelisation und Gemeindeaufbau in Greifswald seit langem versuchen, in die Landeskirchen hineinzutragen, ist an dieser Stelle: Lasst uns diese neuen Formen der Kirche überhaupt mal erlauben und denken. Da hinken wir in Deutschland hinterher. Vielleicht, weil unser System noch zu gut funktioniert. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat durch die Kirchensteuereinnahmen immer noch viel Geld. Das Parochialsystem ist vielerorts noch intakt, ganz anders als in Großbritannien. Doch das wird auf Dauer nicht so bleiben können, und das wissen die Verantwortlichen auch. Mitgliederverluste von jährlich mehr als 200.000 Menschen sind sehr alarmierend – oder müssten es sein. Mancherorts hat es jedoch den Eindruck, dass es uns noch nicht so weh tut, dass wirklich neu gedacht werden müsste. Natürlich gab und gibt es Versuche, hier entgegenzusteuern. Das war ja der Gedanke des „Wachsens gegen den Trend“, den die EKD mit ihrem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ von 2006 anstoßen wollte. Damals haben sich viele dagegen gewehrt, sowohl auf der der Ebene der Landeskirchen wie auf den Ortsebenen. Also: Auch bei uns gibt es vielerlei Versuche, neu zu denken und geistlich und missionarisch aufzubrechen. In der Fläche jedoch haben sie nach meinem Eindruck noch nicht wirklich durchgeschlagen.
Was kann helfen?
Ich glaube, viererlei könnte uns weiterbringen: Erstens: Eine neue Konzentration auf das Zentrum unseres Glaubens, nämlich Jesus Christus. Zweitens: Ein neues, tiefes Vertrauen zur Bibel als Gottes Wort. Drittens: Der Mut, deutlich und in großem Stil zum Glauben und zur Nachfolge zu rufen und viertens die intensive Bitte um das Wirken des Heiligen Geistes in unseren Gemeinden und in unserem Land. Darauf hoffe ich. In diesem Sinn können wir sehr viel von der Kirche in Großbritannien lernen.
Vielen Dank für das Gespräch!