pro: Herr Jung, wo sehen Sie Herausforderungen an die christliche Ethik durch die Digitalisierung?
Volker Jung: Es sind vielfältige Herausforderungen, weil die Digitalisierung grundlegend unser Leben und die Gesellschaft verändern wird. Wir müssen entscheiden: Wollen wir alles, was technisch möglich ist, auch wirklich realisieren? Ein Beispiel: Durch die Digitalisierung wird es viele Möglichkeiten geben, Menschen mit Maschinen zu verbinden. Das wird in der Medizintechnik bereits getan und kann dazu führen, dass wir Krankheiten heilen können, die wir bislang nicht heilen konnten. Denken Sie an die Hoffnung bei Querschnittslähmung durch die Möglichkeiten der Digitalisierung. Es kann aber eben auch dazu führen, dass wir Menschen in Situationen bringen, die von ihnen nicht mehr als gut empfunden werden. Da sind Entscheidungen zu treffen über das, was möglich sein soll.
Oder denken Sie an Künstliche Intelligenz. Die kann eingesetzt werden in Waffensystemen. Wollen wir Maschinen die Möglichkeit einräumen, Menschen zu töten? Das wäre für mich eine sehr grundlegende ethische Frage. Aber auch, wer über unsere Daten verfügt und wer diese sich nutzbar machen darf.
Die Visionäre aus dem Silicon Valley, das beschreiben Sie in Ihrem Buch, wollen mittels Technik den Tod überwinden, durch Vernetzung von Mensch und Maschine Unsterblichkeit erlangen. Wie bewerten Sie das?
Vermutlich jede und jeder möchte lange und gut leben. Es ist ein verständlicher Wunsch, möglichst viel vom Leben auszukosten. Dahinein wird eine Menge Energie investiert. Allerdings, und das wird gerade bei diesen Bemühungen der Digitalvisionäre deutlich: Ist es denn wirklich so, dass wir unendlich leben wollen? Dieses Leben ins Unendliche zu verlängern – ist das eine erstrebenswerte Vorstellung oder Horror? Den zerfallenden Körper mit Maschinen zu verbinden halte ich für keine erstrebenswerte Vorstellung.
Verfällt der Mensch dem Größenwahn?
Der Mensch übersteigt in dieser Fantasie das, was Menschsein ausmacht. Die Grenzen sind sicher fließend. Wo ist die Grenze? Bei 70, 80, 90 oder 100 oder mehr Jahren Lebenszeit? Wir merken es in der Debatte um die medizinischen Möglichkeiten, dass wir an Grenzen stoßen. Es ist gut, wenn wir Patientenverfügungen erstellen und bei entscheidenden Fragen bestimmen: Nein, das will ich dann nicht mehr. Mit meinem Buch möchte ich einen Anstoß dafür liefern, darüber nachzudenken und über Grenzen zu diskutieren. Ich beobachte, dass es enorme gesellschaftliche Veränderungen durch die Digitalisierung gibt und dass wir uns viel intensiver damit auseinandersetzen müssen – auch als Kirche.
Welche Rolle kann Kirche bei der Schaffung einer universellen digitalen Ethik einnehmen?
Wir merken gerade im Bereich der Digitalisierung, dass die nationale Perspektive viel zu kurz greift. In vielen Fragen der Digitalisierung bräuchte es eine globale Verständigung. Welche Macht etwa will man den global agierenden Internetkonzernen einräumen? Das muss überlegt und reflektiert werden. Eine digitale Ethik müsste von Menschen unterschiedlicher Religionen und kultureller Hintergründe geteilt werden können. Für mich sind ein wichtiger Leitfaden die Menschenrechte und die damit verbundene Auffassung von Menschenwürde. Diese Perspektive könnte für mich auch die Perspektive einer universellen Ethik sein, die auf den Bereich der Digitalisierung übertragen werden muss. Das bedeutet zum Beispiel: Menschen müssen das Recht haben dürfen, selber über ihre Daten zu bestimmen.
Ein Alleinstellungsmerkmal der Kirche ist der Dienst am Mitmenschen – die Diakonie. Wie kann sich Kirche Digitalisierung für die Diakonie nutzbar machen?
Das Engagement von Menschen für Menschen ist durch nichts zu ersetzen. Die Digitalisierung kann einen Beitrag dazu leisten, wie Menschen für Menschen da sein können. Das setzt voraus, dass sie gezielt eingesetzt wird. Pflegeroboter können manches leisten, aber sie können Menschen nicht ersetzen. Wenn es gelingt, bestimmte Tätigkeiten in der Pflege von Robotern durchführen zu lassen, um die freiwerdenden Kräfte für die menschliche Zuwendung zu nutzen, dann wäre das ein gutes Beispiel. Ein anderes ist die Vernetzung von Menschen untereinander, in der Nachbarschaft, im Dorf. Wenn es gelingt, über die digitale Kommunikation Menschen zueinander zu bringen, die so füreinander dasein können, wäre das ein positiver Beitrag zum menschlichen Zusammenleben. Da sehe ich uns auch als Kirche in der Pflicht und wir müssen uns die Digitalisierung noch viel mehr zu Nutze machen.
Sie werden in der Herbstkonferenz an den Rat der EKD zum Stand der Digitalisierung in der EKD berichten. Wo sehen Sie noch Potenzial, wo Hürden?
Ein Vorschlag für die Synode wurde bereits mithilfe digitaler Mittel durch ein großes Beteiligungsverfahren entwickelt. Das können wir in Kirche und Gesellschaft sicher noch stärker nutzen. Übrigens auch in Politik und Gesellschaft. Es wird zu überlegen sein, ob digitale Partizipationsverfahren eingesetzt werden können, um unsere Demokratie lebendig zu halten und weiterzuentwickeln.
Digitale Ideen werden an vielen Stellen dezentral entwickelt. Da kann uns die Vielfalt unserer Gliedkirchen von Nutzen sein, wenn wir es schaffen, die Aktivitäten zu verbinden. Dann kann man in einer Kirche mal was ausprobieren, eine Idee entwickeln und wenn es gut ist, anderen zur Verfügung stellen. Das könnte ein Vorteil sein.
Ein Nachteil ist die Schwierigkeit, bei dem hohen Tempo der Digitalisierung alle zusammenzubringen und alle davon zu überzeugen, in diesem vernetzten Prozess miteinander zu arbeiten. Wenn es gut läuft, bietet die Digitalisierung auch die Möglichkeit, unser Selbstverständnis von Kirche weiterzuentwickeln. Nämlich als eine wirkliche Gemeinschaft, die miteinander Dinge erarbeitet und entwickelt.
Wie wollen Sie das erreichen?
Aller Voraussicht nach wird es in der Herbstsynode einen Vorschlag geben, dass im Kirchenamt der EKD in Hannover eine entsprechende Stelle geschaffen werden soll. Deren wesentliche Funktion soll darin bestehen, das, was bereits auf dem Weg ist, miteinander zu vernetzen und Austausch anzuregen. Aber auch, nach neuen Impulsen zu suchen, die dann in das Miteinander der Kirchen eingetragen werden. Diese Stelle kann nicht nur binnenorientiert kirchlich sein, sondern muss auch die Antennen ausfahren zu dem, was überall in der digitalen Welt passiert.
Vielen Dank für das Gespräch.
Der „Medienbischof“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung, hat auf der Frankfurter Buchmesse sein Buch „Digital Mensch bleiben“ vorgestellt. Darin schildert Jung seine persönlichen Erfahrungen mit der Digitalisierung und beschreibt den Geist und die Visionen der Digitalpioniere aus dem Silicon Valley. Jung gibt einen Überblick über das Themenfeld. Er zeigt im Kontext der Digitalisierung die Herausforderungen, vor der Arbeits- und Lebenswelt stehen, aber auch die Kirchen. Jung führt den Leser an die Schnittpunkte der Digitalisierung mit der christlichen Ethik. Das Buch ist eine Verstehenshilfe der Thematik und gibt Denkanstöße, wie der Mensch in der rasanten digitalen Entwicklung weiter Mensch bleiben kann. Im Gespräch mit pro erklärt Jung, wo die Digitalisierung die christliche Ethik berührt und wie sich die Kirchen diese nutzbar machen können. Jung ist Mitglied im Rat der EKD, dem obersten Leitungsgremium der Evangelischen Kirche in Deutschland, und wird auf der Herbstsynode der EKD dem Rat einen Bericht zum Stand der Digitalisierung in der Kirche vorlegen.
Von: Norbert Schäfer