3.677 Minderjährige wurden zwischen 1946 und 2014 von katholischen Priestern und Ordensleuten sexuell missbraucht, vorwiegend Jungen, mehr als die Hälfte von ihnen waren zu der Zeit jünger als dreizehn Jahre. Beschuldigt werden 1.670 Geistliche. Das ist das Ergebnis einer Forschungsgruppe, die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche in Deutschland untersuchte. Darüber berichtete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel am Mittwoch.
Die Forscher von den Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen gehen von einer deutlich größeren Zahl aus, für viele Fälle gibt es keine dokumentierten Belege, teilweise wurden Personalakten manipuliert oder vernichtet. Nach Ansicht der Forscher ist der Spuk noch nicht vorbei: Sexueller Missbrauch durch Kleriker der Katholischen Kirche sei keine „in der Vergangenheit abgeschlossene und mittlerweile überwundene Thematik“.
Der 11. September der Katholischen Kirche
Als moralische Autorität in der Gesellschaft ist die Katholische Kirche damit leider kaum glaubwürdig. Es ist geradezu frappierend, wie systematisch und weitreichend – Deutschland, Chile, USA, Irland, Australien und andere Länder sind betroffen – sexueller Missbrauch seit Jahren grassiert – und trotzdem nur scheibchenweise aufgedeckt wird. Das dürfte das Vertrauen in die Katholische Kirche massiv erschüttert haben. Laut einer Forsa-Studie vom Anfang des Jahres vertrauen nur 27 Prozent der Deutschen der Katholischen Kirche, der evangelischen 48 Prozent. Wer will es den Menschen verdenken? Was kann verheerender sein, als wenn Eltern ihre Kinder einer vermeintlichen Vertrauens- und Schutzperson anbefehlen und diese sich hemmungslos an den Minderjährigen vergeht?
Immerhin: Der Papst hat kürzlich die Schuld seiner Kirche eingestanden und um Vergebung gebeten. Sein Sekretär Georg Gänswein sagte diese Woche, die Kirche durchlebe mit dem Missbrauchsskandal ihren „eigenen 11. September“. Nur dass hier der Angriff nicht von außen kommt, sondern wie ein Geschwür im Inneren der Kirche sitzt.
Bei aller notwendigen und berechtigten Kritik und Empörung über diese Skandale sollte aber eine Zahl nicht übersehen werden: Laut der Studie über die Situation in Deutschland handelt es sich bei den Beschuldigten um etwa vier Prozent der aktiven Kleriker. Demnach sind die allermeisten katholischen Geistlichen keine Kinderschänder.
Entschlossene Schritte gegen Missbrauch sind nötig
Dennoch ist das Problem selbst in seiner Tragweite nicht zu relativieren und muss bekämpft werden. Missbrauch lässt sich nicht wieder gut machen. Aber er kann vermieden werden. Als Mitarbeiter der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit ist es eine der ersten Regeln, die man lernt: Wenn irgendwo eine Gefahrenquelle liegt – Glassplitter etwa –, muss sie nach Möglichkeit entfernt werden. Wenn es die Katholische Kirche wirklich ernst meint mit der Aufarbeitung, muss sie entschlossen handeln und Strukturen verändern, die Missbrauch begünstigen. Das kann auch bedeuten, den Zölibat zu lockern oder Frauen zur Priesterweihe zuzulassen. Und natürlich darf ein Geistlicher, der nachweislich übergriffig wurde, nicht im Amt bleiben, geschweige denn weiterhin mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Dass er sich strafrechtlich verantworten muss, sollte außer Frage stehen.
Am 25. September wird Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, die Studie offiziell vorstellen. Dann sollte er konkrete Maßnahmen im Gepäck haben, mit denen sich seine Kirche gegen den Missbrauch stellt. Von bloßen Schuldeingeständnissen wird die Katholische Kirche kein Vertrauen zurückgewinnen.