Tipp – tapp, tipp – tapp. Der gelbe Luftballon fliegt hin und her. Sechs alte Damen sitzen um einen Tisch herum und versuchen, den Ballon in der Luft zu halten. Ein sehr lautes „tapp“, und der Luftballon trifft eine der Damen, die gerade in ein Nickerchen versunken war, mitten im Gesicht. Alle lachen, auch die Getroffene. „Na, sind wir wieder wach?“, fragt die Betreuerin amüsiert.
Jeden Vormittag, nach dem Frühstück und nach der morgendlichen Pflegeroutine, kommen sie hier im Betreuungsraum zusammen zu Kreuzworträtseln und Bewegungsspielen. Einige von ihnen sind noch sehr aktiv dabei, zum Beispiel bei den Rätseln. Andere schauen eher zu, manche blicken etwas teilnahmslos. Alle wohnen im Haus Berlin – einem Pflegeheim der Königsberger Diakonie im mittelhessischen Wetzlar. Zurzeit wohnen 33 Senioren in dem Haus, ein Teil von ihnen ist an Demenz erkrankt. Die Einrichtung ist auf diese Erkrankung spezialisiert.
Besonders herausfordernd für das Pflegepersonal sind die verschiedenen Krankheitsbilder. Einige der Demenzpatienten im fortgeschrittenen Stadium schlagen manchmal, beißen oder spucken. „Damit muss man umgehen können“, sagt Petra Weiß. Und: „Man muss auch was wegstecken können.“ Sie ist Pflegefachkraft und macht den Job schon seit über 20 Jahren. Und das aus voller Überzeugung: „Mein Herz hängt daran“, sagt die 59-Jährige.
„Die notwendige Zeit der Zuwendung wird immer geringer.“
Die Arbeit ist körperlich und auch psychisch nicht einfach. Etwa, wenn sie sich um bettlägerige Demenzpatienten kümmert, die weder selbständig essen noch sich von einer Seite auf die andere drehen können und kaum mehr etwas von der Außenwelt wahrnehmen. „Man wünscht sich eigentlich, dass diese Bewohner endlich einschlafen und erlöst werden“, sagt Weiß. Auch die erfahrene Pflegerin lassen solche Fälle nicht kalt. Wichtig sei es, dass man im Team darüber sprechen könne, was einen bewege. Außerdem sei ein stabiles Umfeld zu Hause wertvoll, das einen auffange. Und zugleich gebe es auch viele schöne Momente. „Man bekommt so viel zurück“, sagt Weiß. Sei es durch ein Lächeln oder einen dankbaren Blick. Für Weiß ist der Job mehr Berufung als Beruf. Trotz enger Zeitvorgaben widmet sie sich den Bewohnern liebevoll. Das Zwischenmenschliche soll nicht auf der Strecke bleiben. Das ist nicht leicht, ist der Plan doch „eng getaktet“, vor allem bei der morgendlichen Pflege-Routine oder wenn sie diejenigen füttert, die nicht mehr allein essen können. Zwar „muss man schaffen, wenn’s gilt“. Aber manchmal müssten auch Prioritäten gesetzt werden und man müsse „Fünfe grade sein“ lassen, damit die Pflege nicht auf Kosten der Bewohner geschehe, sagt Weiß. Zum Beispiel, wenn sie es nicht schafft, alle ihr zugeteilten Demenzpatienten zur Mittagszeit zu versorgen, weil Frau Meier* kaum noch schlucken kann und deswegen langsamer isst. Da muss dann eine der Kolleginnen in einer freien Minute mithelfen. „Das Wichtigste ist, dass man als Team zusammenhält“, sagt Weiß.
Besonders viel Zeit kostet die Pflegerinnen die Dokumentation der geleisteten Dienste. „Jeder Pickel muss dokumentiert werden“, bringt es Weiß überspitzt auf den Punkt. Auch die Arbeit am Computer – Essenspläne schreiben, Pflegemittel bestellen – nimmt viel Zeit in Anspruch. Der Schreibkram sei früher nicht so aufwändig gewesen, erinnert sie sich. Und das Personal habe sich in den vergangenen 20 Jahren halbiert. Im Haus Berlin versorgen die 33 Bewohner im Frühdienst meistens vier Pflegekräfte. Im Spätdienst sind es drei.
Ab 5.45 Uhr ist Weiß morgens zur Stelle. Ab sechs Uhr herrscht dann Hochbetrieb: Ablaufpläne erstellen, Bewohner zuteilen, wecken und für das Frühstück um acht Uhr fertig machen. Danach die Körperpflege. „Gegen zehn Uhr sehen wir uns als Team das erste Mal“, sagt sie. Dann gibt es erstmal einen Kaffee und die Mitarbeiter können kurz durchatmen. Wie in vielen Pflegeeinrichtungen sind Zeitdruck und wenig Personal auch bei der Königsberger Diakonie die größten Herausforderungen. Der viel diskutierte Pflegenotstand ist auch hier spürbar.
Kein Personal für zusätzliche Stellen
Die Politik habe sich zu lange um die Missstände im Pflegebereicht „herumgedrückt“, sagt Pflegewissenschaftler und Soziologe Hartmut Remmers von der Universität Osnabrück. „Aufgrund der hohen Belastung ergreifen immer weniger Menschen den Pflegeberuf.“ Im ganzen Pflegebereich, also in Krankenhäusern und in der Altenpflege, fehlten derzeit etwa 70.000 bis 100.000 Fachkräfte, sagt Remmers.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte vor Kurzem in seinem „Sofortprogramm“ an, dass kurzfristig für den Bereich der Altenpflege 13.000 zusätzliche Stellen finanziert werden sollen. Das Problem sei jedoch, dass es kein Personal gebe, um die Stellen zu besetzen, kritisiert Remmers. Es seien „viel umfassendere Maßnahmen“ nötig, sagt er. Zum Beispiel müssten die Arbeitsbedingungen verbessert werden, der Beruf müsse attraktiver gemacht und die Bezahlung besser werden. „Das, was Spahn vorschlägt, ist ein kleiner erster Baustein“, sagt Remmers.
Verschiedene politische Vorschläge gibt es bereits, um die Lage zu verbessern. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, schob bereits an, dass es für Fachkräfte, die den Beruf zum Beispiel wegen Überlastung aufgaben und wieder zurückkehren möchten, 5.000 Euro Prämie geben solle. Er schlug außerdem vor, dass die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich reduziert werden müsse. Um das zu finanzieren, machte Westerfellhaus den Reformvorschlag, Beiträge zur Pflegeversicherung auch auf Kapitaleinkünfte wie Mieten zu erheben. Man müsse außerdem die Abbrecherzahlen in der Ausbildung reduzieren, zum Beispiel durch bessere betriebliche Gesundheitsvorsorge, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und finanzielle Anreize. Westerfellhaus sprach sich außerdem dafür aus, die bürokratischen Arbeiten für das Pflegepersonal zurückzuschrauben und verstärkt auf Digitalisierung zu setzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach kürzlich bei ihrem Besuch in einem Paderborner Pflegeheim, den Bereich der Pflege neu gestalten und den Pflegeberuf attraktiver machen zu wollen, zum Beispiel durch bessere Verdienstmöglichkeiten.
Vor allem das Finanzierungssystem im Pflegebereich stehe auf wackligen Beinen, erklärt Pflegewissenschaftler Remmers. „Das Subsidiaritätsprinzip greift nicht mehr“, sagt er. Auf diesem Prinzip fußt derzeit das Pflegesystem in Deutschland. Es bedeutet, dass der Staat erst dann eingreift, zum Beispiel durch Unterstützungsleistungen, wenn weder der Betroffene selbst noch seine Angehörigen in der Lage sind, finanziell für die Pflege aufzukommen. Doch Familie verändere sich, sagt Remmers. In Zukunft wird es weniger Kinder geben, die die Finanzierung des Systems sicher stellen können. Außerdem sind Berufstätige heutzutage viel mobiler und leben oft nicht mehr in der Nähe der pflegebedürftigen Verwandten. So muss viel öfter der Staat aushelfen.
Ambulant statt stationär
Knapp drei Millionen Pflegebedürftige gibt es derzeit in Deutschland. Das geht aus der aktuellen Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes hervor. 27 Prozent von ihnen werden in Heimen versorgt, der Rest lebt zu Hause und wird entweder von Angehörigen oder durch ambulante Pflegedienste betreut. Dass es zu wenige Pflegekräfte gibt, geht oft zu Lasten der Pflegebedürftigen. „Die notwendige Zeit der Zuwendung wird immer geringer“, sagt Remmers. Außerdem müssten Heime immer öfter auf ungenügend qualifiziertes Personal zurückgreifen. In einem Pflegeheim müssten laut gesetzlicher Vorgabe zwar mindestens 50 Prozent des Personals eine dreijährige Fachausbildung vorweisen können. Weil dies aber häufig nicht erfüllt werden könne, würden „alle möglichen Tricks versucht“. Wenn durch Krankheit Personallücken entständen, versuche man, Teile der Belegschaft aus der Freizeit oder dem Urlaub zu holen, obwohl das nicht zulässig sei. Zudem würden immer mehr Kräfte über Arbeitszeitfirmen gewonnen. Das sei jedoch ebenfalls problematisch, weil diese Firmen das Personal nur nach fest verabredeten Zeiten bereitstellten, was mit dem Schichtplan im Heim oft nicht harmoniere.
Um die Heime zu entlasten, könnte noch mehr ambulant statt stationär gepflegt werden. Aber auch hier mangelt es an Personal. Schon jetzt werden mehr Pflegebedürftige ambulant versorgt als noch vor ein paar Jahren. Im Vergleich zum Jahr 2013 stieg die Zahl der ambulant Betreuten um 12,4 Prozent, zeigt die aktuelle Pflegestatistik. Die Anzahl der in Heimen Versorgten stieg lediglich um 2,5 Prozent. Ob eine längere ambulante Versorgung die Heime wirklich entlastet, ist unklar. Denn diejenigen, die anschließend in ein Pflegeheim kommen, sind pflegebedürftiger als früher. „Der Pflegegrad in den Heimen ist enorm gestiegen dadurch, dass die Bewohner später kommen“, sagt Remmers. Das sei eine neue Herausforderung.
Um in Zukunft dem Pflegepersonal die Arbeit zu erleichtern, könnten Pflegeroboter eingesetzt werden. Das sei jedoch mit Vorsicht zu genießen. Beim Anreichen von Speisen, bei körperlich schwerer Arbeit oder bei der Körperpflege könnten Roboter eventuell ein Gewinn sein, sagt Remmers. Doch er betont: „Hilfsbedürftige sind auf die persönliche Ansprache und den persönlichen Zugang angewiesen.“ Die Motivation, Robotik einzusetzen, dürfe nicht auschließlich sein, Personal zu sparen. Die persönliche Zuwendung dürfe nicht zu kurz kommen.
Den Menschen als Ganzes im Blick haben
Der Notstand in der Pflege darf nicht auf Kosten der Pflegebedürftigen gehen. Darin sind sich Experten wie Remmers und Fachkräfte wie Petra Weiß einig. Denn Zeit für die Menschen zu haben, ist ein wichtiger Teil der täglichen Arbeit. „Die seelische Unterstützung ist immer ein Bestandteil der pflegerischen Zuwendung“, sagt Remmers. Und Weiß sagt: „Man muss sich die Zeit nehmen, die man braucht.“ Ins Haus Berlin kommt einmal pro Woche eine Seelsorgerin. Die Pflegekräfte teilen ihr mit, wo Bedarf ist. Oft sei das bei neuen Bewohnern der Fall, sagt Weiß. Remmers fordert, dass die Fachkräfte auf die psychische Komponente noch besser vorbereitet werden, um zu erkennen, wann professioneller Beistand nötig ist. Zum Beispiel durch spezielle Schulungen.
Geht es bei der ambulanten Pflege oft um das Versorgen an sich, spielt bei Heimen – vor allem in christlicher Trägerschaft – die seelische Begleitung der Bewohner eine bedeutende Rolle. In fast allen Einrichtungen der Diakonie gibt es zum Beispiel regelmäßige Gottesdienste und Andachten. Bei der Königsberger Diakonie steht die Diakonische Schwestern- und Bruderschaft Altenberg im Hintergrund, die die Bewohner sozial und seelsorgerlich begleitet. Dem Netzwerk Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband gehören verschiedene Alten- und Pflegeheime an, die besonderen Wert auf Seelsorge und christliche Verkündigung legen. Dem Altenpflegeheim Tabor bei Marburg geht es um „ganzheitliche Pflege und Fürsorge“. Es wird Wert auf christliche Gemeinschaft, Andachten und Gottesdienste gelegt. Eine ähnliche Motivation haben verschiedene Diakonissen-Mutterhäuser und deren dazugehörige Pflegeheime, wie zum Beispiel die Stiftung Hensoltshöhe oder das Alten- und Pflegeheim Tannhäuser in Biedenkopf. Dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) gehören deutschlandweit ebenfalls viele Einrichtungen an, die besonderen Wert auf eine geistliche Betreuung im Alter legen (siehe Servicekasten). Zudem gibt es in ganz Deutschland verschiedene Pflegeheime in freier christlicher Trägerschaft.
Wer nicht in einem Pflegeheim, aber auch nicht alleine wohnen möchte, für den könnten neue Formen des Wohnens interessant sein. Es gibt zum Beispiel immer mehr ältere Menschen, die sich für eine Pflege-WG entscheiden, für ein Mehrgenerationenhaus oder für das Modell „Wohnen für Hilfe“. Dieses Projekt gibt es vor allem in Universitätsstädten. Studenten bewohnen hierbei für wenig Geld ein Zimmer im Haus oder in der Wohnung der Senioren und helfen dafür zum Beispiel im Haushalt oder Garten mit. Dieses Modell eignet sich für rüstige Senioren, die nur wenig Unterstützung brauchen. In einer Pflege-WG sind dauerhaft Pflegefachkräfte anwesend, die Bewohner sollen ihr gewohntes Leben jedoch so weit wie möglich weiterführen können und haben gleichzeitig soziale Kontakte.
In Mehrgenerationenhäusern hat zwar jede Partei ihre eigene Wohnung, einsam ist man dennoch nicht. Die Hausgemeinschaft ist das tragende Element. Im mittelhessischen Wetzlar gibt es zum Beispiel das Projekt WeiterRaum. In 17 Wohneinheiten leben Familien mit kleinen Kindern, Alleinstehende und Paare jeden Alters. Im Zusammenleben von Jung und Alt möchte die christlich geprägte Gemeinschaft füreinander da sein, gleichzeitig soll aber auch jedem seine Individualität und Freiheit erhalten bleiben. Es gibt regelmäßige gemeinsame Aktionen, die Senioren im Haus sind auch mal Babysitter für die Kleinsten und erhalten dafür zum Beispiel Hilfe im Garten oder im Haushalt. Die Pflege im Alter übernehmen die Bewohner nicht. Bei Bedarf sorgen sie jedoch dafür, dass professionelle Hilfe ins Haus kommt.
Fest in der Gesellschaft verankert
Pflegewissenschaftler Remmers hält diese neuen Wohnformen für eine mögliche Lösung für die Zukunft. Es gebe aber noch zu wenig wissenschaftliche Forschungen dazu, um festzustellen, wie tragfähig diese Modelle auf Dauer seien. Die Senioren könnten so länger selbständig leben, im Falle einer hohen Pflegebedürftigkeit sei das Pflegeheim aber immer noch eine wichtige Anlaufstelle.
Das wichtigste Anliegen für Remmers ist, älteren Menschen einen festen Platz in der Gesellschaft zuzusichern. Sie dürften nicht ins Hintertreffen geraten. „In unserer Gesellschaft wird mehr und mehr auf Produktivität gesetzt“, sagt er. Wer dazu wegen seines Alters nichts mehr beitragen könne, „findet sich in unserer Gesellschaft nicht mehr angemessen wieder, das heißt in seinen gesamten Lebensleistungen nicht mehr voll anerkannt“. Der menschliche Aspekt müsse daher auch bei der Pflege viel stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Ein Stück weit tragen dazu bereits Pflegerinnen wie Petra Weiß bei. Trotz „blöder Arbeitszeiten“ am Wochenende oder an Feiertagen sagt sie: „Ich würde es jederzeit wieder machen.“
Dieser Text ist in der Ausgabe 4/2018 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Bestellen Sie pro kostenlos hier.
Von: Swanhild Zacharias