Anette Schultner ist den meisten politisch engagierten Christen ein Begriff. Sie war seit der Gründung 2013 Vorsitzende der Gruppe Christen in der AfD. Beim Evangelischen Kirchentag in Berlin stritt sie 2017 mit dem hiesigen Bischof Markus Dröge darüber, ob Christen sich in der rechtskonservativen Partei engagieren dürfen. Im Oktober desselben Jahres erklärte sie ihren Austritt aus der AfD. Zu stark seien die Rechten um den Thüringer Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke geworden, sie habe die Mitarbeit nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können, begründete sie den Schritt damals.
Nun hat Schultner beim christlichen SCM-Verlag ein Buch über ihre politische Einstellung veröffentlicht. „Konservativ. Warum das gut ist“ ist keine Abrechnung mit der AfD, wohl aber eine kritische Analyse ihrer fünfjährigen Entwicklung – von einer liberal-konservativen Alternative hin zu einer von rechten Stimmungsmachern gesteuerten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag.
Schultner selbst ist überzeugte Freikirchlerin, fromm bis in die Zehenspitzen. Ihre Eltern unterstützten unter anderem die Arbeit des Gideonbundes, der weltweit Bibeln bereitstellt. Ihr Großvater predigte auf eigene Faust in einem Internierungslager der Amerikaner unter deutschen Soldaten, zu denen er selbst gehörte – sie alle sollten Jesus kennenlernen. Schultner selbst schätzt den Journalisten Peter Hahne oder den Prediger Ulrich Parzany – streitbare Persönlichkeiten des evangelikalen Konservatismus.
Vaterland, Familie, Lebensschutz, Israel
Mit ihrem Christsein begründet Schultner ihre konservative Agenda: der Schutz des Lebens, der Familie, des deutschen Vaterlandes und Israels – das sind die politischen Themen, die für sie am meisten zählen. Untrennbar ist das verbunden mit einer rigorosen Ablehnung linker Ideen sowie der Überzeugung, dass der Konservatismus im heutigen Deutschland strukturell benachteiligt ist. „Links-Sein ist mehr als alles andere ein Lebensgefühl, in dem man um die eigene ethische Überlegenheit mit ersatzreligiösem Selbstverständnis zu wissen meint“, schreibt Schultner an einer Stelle und stört sich etwas später an der destruktiven Kraft des linken Milieus, die sich für sie zum Beispiel durch Graffiti ausdrückt.
Schultner entschließt sich deshalb 1989 dazu, in die Junge Union einzutreten, die Jugendorganisation der CDU, der sie sich ebenfalls anschließt. Doch sie erlebt, was viele heutige AfD-Mitglieder zum Austritt bewegt und der AfD breite Zustimmung bei den letzten Bundestagswahlen eingebracht hat. Die Union wandert in den Augen ihrer Kritiker nach links, setzt etwa zunehmend auf Europa oder lässt über die Ehe für Alle abstimmen. „Ich war enttäuscht. Enttäuscht von einer Politik, die dem Namen nach christlich und konservativ ist, aber inhaltlich damit kaum noch zu tun hat“, schreibt Schultner. Im April 2013 verlässt sie die CDU. Sechs Tage später tritt sie der AfD bei. Noch im selben Jahr gründet sie die Christen in der AfD, kurz ChrAfD. Ihre Beschreibungen helfen zu verstehen, wer sich bis heute in der AfD tummelt. Konservative, die woanders keine Heimat sehen. Eben nicht nur Rechtsextreme, auch wenn sich diese dort ebenfalls finden.
„Später völlig fassungslos“
Von da an wächst die AfD rasend schnell. Es ist kaum zu kontrollieren, wer in die Partei aufgenommen wird, noch, wer wichtige Posten übernimmt, sind doch viele der Neufunktionäre weitgehend unbeschriebene Blätter. „Wer in den ersten zwei Jahren schon Mitglied der AfD war, hat sicher den einen oder anderen in Vorstände gewählt, über den er später völlig fassungslos war“, schreibt Schultner. Demnach setzte sich die Anfangs-AfD vor allem aus drei Fraktionen zusammen: Enttäuschte CDU-Konservative, eurokritische Liberale und „weit rechts orientierte Mitglieder“.
Dass die erstgenannten Gruppen innerhalb der AfD den Rechten nach und nach das Feld überließen, lag laut Schultner auch am Umgang der Öffentlichkeit mit der neuen politischen Kraft. Von Anfang an sei sie in die rechte Ecke gestellt worden, selbst der aus heutiger Sicht gemäßigt wirkende Bernd Lucke. So sei ein Druck entstanden, dem sich Liberale und Konservative kaum aussetzen wollten. „Liberale gibt es in der Partei kaum noch, Ultrarechte dagegen mehr denn je“, beschreibt Schultner die heutige Situation.
Der rechte Flügel um Björn Höcke erstarkte, Schultner zeichnet ein Szenario, nach dem gezielt zunächst Lucke und später Frauke Petry abgesägt wurden. Schultner beobachtete dies bis ins Jahr 2017 hinein und fühlte sich in einem Gewissenskonflikt: „Die AfD sagte programmatisch ganz wichtige Dinge, die Christen in unserer Politik umgesetzt sehen wollten, und sie tat es teilweise als Einzige, zumindest in dieser Deutlichkeit. Gleichzeitig gab es aber bei dem Auftreten unserer Funktionsträger und auch in der Art und Weise, wie über vieles in Hinterzimmern und internen Foren gesprochen wurde, Dinge, die man nur verabscheuen konnte.“
Rechtsradikale Nachrichten
So berichtet Schultner von einer Messenger-Gruppe ihres Kreisverbandes, aus der sie austrat, weil „Postings, Texte und Bilder … nicht nur den Rahmen des Anstandes verließen, sondern sogar justiziablen Charakter haben konnten“. Als „definitiv rechtsradikal“ bezeichnet sie manche Inhalte und übt scharfe Kritik an der Unterstützung des Höcke-Flügels durch Jörg Meuthen, Alexander Gauland, Armin-Paul Hampel und André Poggenburg.
Den Ausschlag zum Austritt gab für Schultner eine deutlich rassistische Äußerung Höckes, verbunden mit dem Ausbleiben jeglicher Empörung innerhalb der Partei: „Im Jahr 2017 konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass in weiten Teilen der AfD der Höcke-Flügel zwar nicht die absolute Mehrheit hatte … aber inzwischen so stark war, dass er fast immer verhindern konnte, wen oder was er verhindern wollte.“ Zeitgleich zieht die AfD mit 12,6 Prozent der Stimmen als drittstärkste Kraft in den Deutschen Bundestag ein.
Anette Schultners Buch „Konservativ“ ist sicherlich kein literarisches Meisterwerk und an mancher Stelle darf der Leser den Kopf über die ein oder andere naive Schilderung der Autorin schütteln. Auch ihre sehr konservative, man will sagen, scheuklappenartige Weltsicht passt sicherlich nicht jedem. Wichtiger aber ist, dass Schultner ungewollt eine, freilich unwissenschaftliche, Studie dazu vorgelegt hat, wie eine junge Partei von einer Gruppe gekapert wird, die mit den Vorstellungen der Gründer kaum noch etwas zu tun haben will. Die Lektüre zeigt eindrücklich, welch teuflische Mischung populistisches Sendungsbewusstsein, enttäuschte Rezipienten und eine an manchen Stellen unfaire Presse ergeben kann. Journalisten, AfD-Unterstützer, Linke und Rechte sollten „Konservativ“ selbstkritisch studieren.
Anette Schultner: „Konservativ. Warum das gut ist.“, SCM Hänssler, 192 Seiten, 16,95 Euro, ISBN: 978-3-7751-5879-4
Von: Anna Lutz