Mit dem unerwarteten Tod seiner Mutter steht Toni Hinteregger schließlich als Waisenkind da. Um ihn vor dem Heim zu bewahren, nimmt die Familie Schmid den kleinen Toni, der Analphabet und Bettnässer ist, wie ein eigenes Kind an und zieht ihn groß. Sie sorgt für ihn und er kümmert sich dafür um deren Alm, wo er den Sommer über weilt und das Vieh hütet. So wächst Toni auf einem Südtiroler Hof auf, unweit seines vom Erdrutsch verschütteten Elternhauses, lernt lesen und schreiben, lieben und leiden.
Die Liebe haut Toni spätestens dann um, als Evi auf den Hof kommt – eine Tochter aus gutem Hause, der eine erfolgreiche berufliche Zukunft bevorsteht. Zunächst soll sie als Hausmädchen das Landleben kennenlernen. Geplant und vorbereitet ist ihr Weg bereits von den Eltern: Nach ihrem Einsatz auf dem Hof der Familie Schmid soll sie in England an eine Elite-Universität zum Medizinstudium gehen. Dass ausgerechnet sie sich in den Almhirten verliebt, soll ihrer Familie nicht recht passen und erschwert die junge Liebe. Man muss etwas Almhüttenromantik zwischen Badewanne und Heuhaufen über sich ergehen lassen, bis die beiden nach der Hälfte des Buches dankenswerterweise zueinander finden. Denn dann sind alle Wangen errötet, Blumensträuße im Morgengrauen gepflückt und Evi hat sich einmal mehr „zaghaft und fröstelnd ausgezogen“.
In Krankheit und Sekte gefangen
Doch genau an diesem Punkt, wo Toni und Evi ein Paar werden, ändert Mette das Erzähltempo, als würde die Erzählung erst an diesem Punkt beginnen. Schnell gewinnt der Roman an Spannung und Tragik. Das gelingt dem Theologen vor allem dadurch, dass er die Erzählperspektiven häufiger wechselt. War bislang hauptsächlich aus der Sicht des Almhirten Toni erzählt worden, erhält der Leser nun auch Einblick in die Gedanken von Evi. Die gerät in London nämlich in die Fänge einer Sekte, was ihren Glauben und die Beziehung zu Toni auf eine harte Probe stellt.
Aber auch Toni, der weiter in Südtirol ist, holt ein Schicksalsschlag ein. Er erkrankt an Parkinson und seine berufliche Zukunft steht damit auf dem Spiel. Denn seinen Körper braucht er als Hirte. Autobiographische Details lässt Mette, der vor einigen Jahren selbst an Parkinson erkrankte, immer wieder in seinen zweiten Roman einfließen. Wie Mette beginnt auch Toni, Geschichten aufzuschreiben, Literatur zu lieben. In seinem Kampf für die Liebe, für Gesundheit und Zweisamkeit gibt Toni nie die Hoffnung auf, auch wenn Zweifel ihn immer wieder heimsuchen.
Zweifeln, hadern und doch hoffen
Die erzählte Zeit erstreckt sich über eine Spanne von rund 30 Jahren, die in etwa mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt. Die Konflikte und Entwicklungen dieser Zeit bergen Potenzial für szenisches Erzählen. Althergebrachte Rollenbilder, infrastrukturelle Änderungen sowie gesellschaftliches Klassendenken werden vom Autor nur beiläufig erwähnt, hätten aber der Spannung in der ersten Buchhälfte sicherlich gut getan. So haben historische Einschübe keine rechte Anbindung an die Erzählung, sondern finden sich etwas unbeholfen im Text wieder – etwa wenn Mette über die Verlegung der ersten Stromleitung in Tonis Dorf oder über die Entwicklung der Kasseler Parkinson-Klinik schreibt.
Gelegentlich greift Mette in „Espenlaub“ Glaubensfragen kritisch auf, die nicht er, sondern seine Figuren beantworten, wie zum Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten oder zur Freiheit des christlichen Glaubens, die Evi nach ihrem Sektenaustritt in ganz neuer Form erleben kann. Mettes Figuren hadern mit Gott. Nüchtern und realistisch, aber vor allem ehrlich benennt er die Zweifel, die ein jeder wohl kennt. Das macht dieses Buch interessant. Und das regt zum Nachdenken und Hinterfragen an. Hohe literarische Kost hat der Leser bei „Espenlaub“ nicht zu erwarten, aber den Anspruch hat das Buch auch nicht. Dafür wartet eine durchaus unterhaltsame Lektüre auf, die sich auf jeden Fall für den nächsten Bergurlaub anbietet.
Jürgen Mette: „Espenlaub“, Gerth Medien, 240 Seiten, 15 Euro, ISBN 783957341914
Von: Anne Klotz