Als die ersten Schüsse ertönen, denken die Teenager im Sommercamp der sozialdemokratischen Jugend auf Utøya noch, jemand habe Chinaböller gezündet. Sie wissen von einem Anschlag, der sich wenige Stunden zuvor im Regierungsviertel von Oslo ereignet hat. Doch auf dieser kleinen Insel 30 Kilometer entfernt von der Großstadt wähnen sie sich in Sicherheit. Bis der Terrorist Anders Breivik eine grausame Treibjagd beginnt und die Insel zur tödlichen Falle umfunktioniert. Denn ans Festland schwimmen kann niemand. Zu kalt ist das Wasser, zu weit weg das Sicherheit versprechende Ziel. Ein Versteck zwischen lichten Bäumen und harten Klippen zu finden, scheint aussichtslos. So rennen die Jugendlichen vom einen Ende der Insel zum anderen, immer da hin, wo gerade keine Schüsse ertönen.
Erstmals erleben Zuschauer in einem Kinosaal diesen Horror mit. Eine wackelige Handkamera folgt der erfundenen Hauptfigur Kaja (Andrea Berntzen), einem 19-jährigen Mädchen, das einmal Politikerin werden möchte, sich öfter mit ihrer Schwester streitet und außergewöhnlich hilfsbereit ist. Viel mehr verrät Regisseur Erik Poppe nicht über seine Protagonistin. Stattdessen lässt er sie rennen, durchatmen, rennen, sich verstecken, Verletzten die Hand halten, rennen und ihre Schwester suchen. 72 Minuten dauerte der Horror auf Utøya und genau 72 Minuten vergehen auch im Film ab dem ersten Schuss, bis das Morden endet. Näher kann ein Filmemacher sein Publikum nicht an ein Setting heranbringen. Wer diesen Film sieht, erlebt den Terror in Norwegen hautnah. Filmerisch gibt es hier wenig zu bemängeln. Schauspielerisch ebensowenig.
Darf man das?
Und dennoch gibt es nach der ersten Vorführung des Films am Montagmorgen im Berlinalepalast nicht nur Applaus, sondern auch Buh-Rufe. In der Tat muss man die Frage stellen: Darf man das? Einen terroristischen Anschlag als spannenden Spielfilm inszenieren? Vor laufender Kamera zeigen, wie Jugendliche sterben? Und zwar nicht als rührseliges Drama inszeniert, sondern als Horrorvision, bei der mitgefiebert werden soll?
Nach der Festnahme des Rechtsextremisten Anders Breivik genoss dieser augenscheinlich die große mediale Aufmerksamkeit, die ihm und seinen kruden Ideen, Norwegen vor dem Islam und dem Sozialismus retten zu müssen, zuteil wurde. Vor Gericht inszenierte er sich als Held. Noch vor den Anschlägen versandte er ein 1.500-seitiges politisches Manifest an über eintausend Empfänger. Breivik wollte gesehen und gelesen werden. Er wollte seine Thesen unsterblich und seine Taten unvergessen machen.
Einem wie Breivik kommt ein Film wie „Utøya 22. Juli“ vermutlich entgegen. Man kann sich vorstellen, wie der Fanatiker im Gefängnis, wo er den Rest seines Lebens verbringen wird, von der Produktion erfährt und sich darüber freut. Natürlich will niemand einem Massenmörder einen Gefallen tun. Das aber darf kein Grund für Selbstzensur sein.
Denkmal für die Opfer
Erik Poppe hat in seinem Film darauf verzichtet, Breivik namentlich zu nennen oder auch nur zu zeigen. Lediglich in einer Szene taucht der damals 34-Jährige auf, doch der Zuschauer erahnt ihn mehr, als dass er ihn tatsächlich erkennt. Stattdessen konzentriert sich „Utøya 22. Juli“ auf die Opfer seiner Taten und macht damit deutlich, auf wessen Seite der Regisseur steht und wem er Ruhm zuteil werden lassen möchte. Den jungen Menschen nämlich, die 2011 ihr Leben, ihre Freunde oder ihre Jugend verloren haben.
Im Abspann des Films lassen die Macher die Zuschauer wissen, dass auf Utøya nicht nur 69 Menschen starben. 300 der 560 Campteilnehmer befinden sich bis heute in psychologischer Betreuung. Spätestens nach dem Kinobesuch versteht wirklich jeder, warum.
Von: Anna Lutz