Fast genau 73 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz diskutierte Anne Will am Sonntagabend mit ihren Gästen über Antisemitismus in Deutschland. Ihre Sendung hatte sie provokant mit der Frage überschrieben: „Wie antisemitisch ist Deutschland heute?“. Eingeladen waren die CDU-Staatsministerin Monika Grütters, die Berliner SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli, Wenzel Michalski, Direktor der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“, der Historiker und Politikwissenschaftler Julius H. Schoeps sowie die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano.
Vor allem Bejaranos Augenzeugenberichte waren außergewöhnlich und machten die Sendung zu etwas Besonderem. Die 93-Jährige überlebte als junge Frau die Konzentrationslager Ravensbrück und Auschwitz. Alle ihre Familienangehörigen wurden von Nazis ermordet. Sie selbst überlebte nur, weil man sie ins Mädchenorchester des Auschwitzer KZs berief. Würdig also, dass Will ihr und ihrer Lebensgeschichte die erste halbe Stunde der Sendung widmete.
„Immer noch viele Nazis mit menschenverachtender Ideologie“
Bejaranos Lebensgeschichte und ihre Erzählungen bewegten die Herzen, ihre Schilderungen ließen es dem Zuschauer an diesem Abend kalt den Rücken runterlaufen. Wenn man Menschen wie Bejarano zuhöre, „dann werden die Nazigräuel plötzlich nicht mehr nur ein Kapitel im Geschichtsbuch“, fand auch Staatssekretärin Monika Grütters.
Auf eine Rolle als Zeitzeugin ließ sich Bejarano an diesem Abend jedoch nicht reduzieren. Bereits in ihrer Vorstellung hatte Anne Will sie als „Antifaschistin“ bezeichnet. Energisch diskutierte Bejarano dann mit. Gleich zu Beginn beklagte sie, „dass es wirklich noch ganz schön viele Nazis mit dieser menschenverachtenden Ideologie gibt“. Und fügte erklärend hinzu: „Wir müssen etwas gegen diese rechtslastigen Parteien tun.“
Antisemitismus ist „kollektive Bewusstseinskrankheit“
Später radikalisiert sie ihre Aussagen und erklärt sogar, „dass Deutschland immer antisemitisch war. Dass sich da nicht viel geändert hat.“ Es habe keine Entnazifizierung gegeben. Thesen, denen an diesem Abend aus Ehrfurcht vor Bejaranos Lebensgeschichte leider keiner so richtig widersprechen mochte. Nur Monika Grütters formulierte mit einer besonderen Prise Zurückhaltung: „Wir tun ehrlichen Herzens sehr viel. (…) Aber ich glaube, es kann nie genug sein.“
Ähnlich wie Bejarano äußerte sich auch der Historiker Julius Schoeps. „Ich halte den Antisemitismus für eine kollektive Bewusstseinskrankheit“, sagte er und erklärte: „15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung haben antisemitische Einstellungen.“ Damit liege Deutschland „irgendwo im Mittelfeld“ im europäischen Vergleich. Und Wenzel Michalski von „Human Rights Watch“ kritisierte: Seit Jahrzehnten gingen Leute an irgendwelchen Gedenktagen auf die Straße und sagten: „Wehret den Anfängen!“ Und bekämen gar nicht mit, „dass die Anfänge ja da sind. Es hat ja angefangen.“
Deutschland sieht Michalski derzeit in einer ähnlichen Situation wie 1933, was offenbar sogar Moderatorin Anne Will irritierte und zur Rückfrage veranlasste: „Und das vergleichen Sie wirklich?“ „Wir sind nicht am Anfang, wir sind mittendrin“, mischte sich Bejarano in die Diskussion mit ein.
„Neu ist die Dimension des israelbezogenen Antisemitismus“
Nach zwei Dritteln der Sendung diskutierte dann auch die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli mit. Sie hatte als Reaktion auf das Verbrennen israelischer Flaggen vor dem Brandenburger Tor einen „Arbeitskreis Antisemitismus“ gegründet. Erst Chebli brachte, interessanterweise als Tochter einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie, eine weitere Form von Antisemitismus in die Diskussion mit ein – abseits eines rechtsradikalen Judenhasses.
Neu sei „die Dimension des israelbezogenen Antisemitismus“, gab sie zu bedenken. „Unter dem Deckmantel der Israel-Kritik werden antisemitische Äußerungen vollzogen. Das hat definitiv zugenommen.“ Von der Runde wurde dieser Punkt leider nur zögerlich aufgenommen.
Auch die Aussprache über „eingewanderten Antisemitismus“, einen Begriff, den Anne Will in die Runde werfen musste, damit er überhaupt diskutiert wurde, wirkte an diesem Abend eher zwanghaft. So entschuldigte sich Wenzel Michalski, dessen Sohn an einer Schule antisemitisch beleidigt und körperlich attackiert worden war, schon fast, als er den Migrations-Hintergrund der Täter ansprach: „Ich muss leider sagen, es waren Kinder türkischer und arabischer Abstammung.“ Linker oder islamischer Antisemitismus wurde an diesem Abend explizit gar nicht erwähnt.
Bejarano: „Sie nennen mich jüdischer Antisemit“
Und so kamen die Diskutanten am Ende auch auf keinen gemeinsamen Nenner, wie der Antisemitismus wirksam zu bekämpfen sei. Auch, weil eine ganzheitliche Analyse des Problems ausblieb. Das könnte daran liegen, dass man sich schwer tat, der stark auf rechten Antisemitismus fokussierten Esther Bejarano auch einmal zu widersprechen.
Spätestens wenn man detaillierter auf den antiisraelischen Antisemitismus eingegangen wäre, wäre das aber möglicherweise nötig geworden. Was nämlich kaum einer weiß: Bejarano verbindet eine gewisse Nähe zur antisemitischen BDS-Organisation, die zum Boykott Israels aufruft. BDS Wiesbaden zitiert auf Facebook Bejarano mit den Worten: „Ich bin Antizionistin – auf jeden Fall“. 2017 schrieb sie in einer Solidaritätserklärung mit dem „Deutschen Koordinationskreis Palästina Israel“, der mit BDS sympathisiert: „Sie nennen mich Verräter an meinem Volk. Sie nennen mich Jüdischer Antisemit, weil ich spreche von dem, was sie tun in Israels Namen gegen Palästinenser, gegen Araber anderer Länder und auch gegen Juden“.
Von: Sandro Serafin