Mozart und Bach sind heute oft wichtiger als bedeutende Theologen und gute Prediger. Dies beobachtet der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in Bezug auf Spiritualität in Deutschland. In der Sendung „NZZ Standpunkte“ bezeichnete er sich selbst als entschieden liberalen Theologen. Er beobachte aber auch viele fundamentalistische Entwicklungen, die eine andere moralpolitische Agenda hätten. Bei diesen Menschen stünden Abtreibung und Homosexualität auf der Agenda. Dies seien Gegenentwürfe zu einer Welt, die schon lange harte Debatten dazu geführt habe. Länder wie Irland und Polen sieht er als Beispiele dafür, dass Religion nicht auf dem Rückzug ist.
Aber auch bestimmte christliche Riten und Traditionen wie der Kirchgang am Heiligabend spielten immer noch eine Rolle und seien Phänomene eines privaten bürgerlichen Christentums. Die Beobachtung eines rückwärts gewandten, gewaltbereiten Islams ist aus Grafs Sicht auch nicht so neu. Dies seien Menschen, die zum „wahren Ursprung“ ihrer Religion zurückkämen und an die frühesten Formen des Islam anknüpften: „So etwas kennen wir auch aus der Geschichte des Christentums. Die Menschen klammern sich an klare Wahrheit, um Orientierung zu finden.“
Feste geordnete Welt für manche attraktiv
Junge muslimische Akteure hätten oft Demütigungen erfahren und konnten nicht im Bildungssystem landen. Daraufhin hätten sie sich andere Angebote der Sinndeutung gesucht. In einer geschlossenen Welt wie dem IS würden sie dann immer wieder eine Bestätigung für sich selbst finden. „Diese feste geordnete Welt ist für manche attraktiv.“
Der Befund, dass Religion gewalttätig sei, ist für Graf nicht neu. Schon die biblischen Bücher enthielten viele Gewaltmetaphern und Gewaltexzesse. Der Theologe findet, dass die Menschen kaum etwas so einfach bindet wie Religion. Diesbezüglich lasse man sich zu Emotionen hinreißen. Dass sich allerdings junge Männer im Namen der Ideologie in den Krieg begäben, habe es schon zu Zeiten des Kommunismus und Faschismus gegeben.
Der Staat müsse gegenüber Intoleranz klare Linien ziehen und klare verbindliche Spielregeln für alle aufstellen. In einem Land könne nur leben, wer den Rechtsstaat akzeptiert. Dies dürfe nicht durch religiöse Sonderrechte aufgehoben werden. Einwanderer müssten die Rechtsordnung akzeptieren, die herrschende Landessprache sprechen und den Antisemitismus nicht wieder salonfähig machen.
Als schwierig empfindet Graf, dass die muslimischen Akteure nicht kirchenähnlich organisiert sind und der Staat damit keinen geeigneten Ansprechpartner hat. Er bemängelt, dass Einwanderung viel zu lange nur als temporäres Phänomen gesehen wurde: „Es wurde nie über gesteuerte Einwanderung diskutiert, deswegen fand lange Zeit eine nicht gesteuerte Einwanderung statt.“ Wichtig für Deutschland sei ein in Deutschland ausgebildeter und sozialisierter Islam: „An die Universitäten sollen keine Imame von auswärts importiert werden.“
Von: Johannes Weil