„Stärkt eure Kinder“

Die Kampagne #churchtoo hat Fälle sexuellen Missbrauchs innerhalb von Kirchengemeinden ans Licht gebracht. Wie ein sensibler Umgang mit dem Thema gelingen und für mehr Sicherheit gesorgt werden kann, erklärt der Theologe und freiberufliche Berater Christian Rommert.
Von PRO
Jede vierte Frau und jeder siebte bis zehnte Mann seien von sexueller Gewalt in ihrer Kindheit betroffen, sagt der Theologe Christian Rommert

pro: Herr Rommert, wie erklären Sie sich, dass sexueller Missbrauch im kirchlichen Kontext vorkommt?

Christian Rommert: Kirchen seien etwas Besonderes – diese Aussage war viele Jahre ein großer Irrtum, der es Tätern leicht gemacht hat. Doch Kirchen sind keine von Natur aus sicheren Orte. Es sind Orte, wo mögliche Täter und mögliche betroffene Kinder aufeinander treffen. Täter suchen sich gezielt Orte, wo das Aufdecken ihrer Taten keine oder kaum Konsequenzen hat oder sie die Gefahr des Aufdeckens gar nicht sehen. Im kirchlichen Kontext vertraute lange Zeit jeder jedem, es gibt einen sehr dichten, sehr familiären Umgang. So kommt es, dass Täterinnen und Täter sich frei bewegen können, ohne dass jemand misstrauisch wird. Dazu kommt, dass das Thema Sex häufig tabuisiert wird.

Auch das Thema Vergebung spielt in Kirchen eine spezielle Rolle. Täter, die straffällig wurden und dann eine Bekehrungsgeschichte haben, wurden nicht selten mit wehenden Fahnen begrüßt. Und schlussendlich besteht in vielen Kirchen immer noch ein gewisses Machtgefälle von Mann und Frau. All diese Punkte führen dazu, dass an den Täter das Signal gesendet wird: Hier ist ein Ort, wo schon irgendjemand für dich die Hand ins Feuer legen wird, wenn du übergriffig wirst. Täter machen Testrituale: Sie finden heraus, wie gefährlich oder sicher ein Ort ist. Außerdem sind sie Meister im Verführen. Da sind die Abwehrkräfte von Kirchen manchmal nicht ausreichend gewesen.

Wo sehen Sie Ansätze, um sexuellen Missbrauch in Kirchen zu vermeiden?

Ich würde es eher so formulieren, dass es darum geht, die Gefahr von sexueller Gewalt in Kirchen zu reduzieren. Denn wer glaubt, Sicherheit hergestellt zu haben, der bleibt nicht wach. Sicherheit ist aber kein erreichter Zustand. Sie muss immer wieder errungen und erkämpft werden. Wir bleiben auf dem Weg! Dabei sehe ich vier Ansätze. Erstens: Stärkt eure Kinder! Starke Kinder suchen sich Hilfe und erzählen ihren Eltern von Begegnungen, die sie irritieren. Sie wissen, dass es gute und böse Geheimnisse gibt und sie gegenüber Erwachsenen ein Selbstbestimmungsrecht haben und Nein sagen dürfen. Es gibt viele kreative Angebote, wie man das Thema „Nein sagen“ den Kindern vermitteln kann. Zweitens: Mitarbeiter brauchen ein Mindestmaß an Erfahrung mit dem Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt. Sie sollten wissen, wie ein Beschwerdeverfahren aussieht, wo sie Hilfe suchen können. Sie sollten auch einen Kodex unterschreiben und Regeln für das Miteinander mit den Kindern und im Team miteinander vereinbaren. Es ist wichtig, dass der Kindesschutz vor dem Schutz der Institution steht. Drittens: Das Thema muss enttabuisiert werden. Viertens: Anlauf- und Beratungsstellen sollten bekannt sein.

Wie kann die Schweigekultur über erlebten sexuellen Missbrauch in Kirchen gebrochen werden?

Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anfangen, über das Thema zu sprechen, ist das wie eine Erlaubnis für die Betroffenen, ihre Geschichte zu erzählen. Sie signalisieren, dass sie Hilfe brauchen, aber sie tun es auf eine Weise, die sehr vorsichtig ist. Es muss eine Vertrauensbasis geschaffen werden. Dann werden sich die Betroffenen auch öffnen.

Was halten Sie von dem Twitter-Hashtag #churchtoo?

Churchtoo ist eine wichtige Aktion, denn sie erinnert uns daran, dass wir uns dem Thema zu stellen haben und dass wir damit noch lange nicht fertig sind. Es ist kein Thema, das irgendwann abgeschlossen ist, wo wir irgendwann Sicherheit erreicht haben. Das bleibt und ist ein Weg. Die Geschichten, die erzählt werden, sind absolut schockierend und das ist die Realität, auch in unseren Kirchen und freikirchlichen Gemeinden. Das müssen wir im Blick haben und durch solche Kampagnen wird uns das immer wieder vor Augen geführt, was ich sehr positiv finde.

Opfer sexuellen Missbrauchs kämpfen oft mit großer Scham und Schuldgefühlen. Warum werden diese durch Gespräche mit dem Kirchenpersonal oft noch verstärkt?

Das Kirchenpersonal agiert nicht anders als alle anderen. Fragen wie „Warum hast du denn nichts gesagt?“ werden oft gestellt. Das löst das Gefühl aus, sich rechtfertigen zu müssen. Weil der Täter eh mit Schuld und Scham arbeitet, geht die Täterstrategie auf und schützt den Täter. Ich empfehle, bei Gesprächen zuzuhören, zu dokumentieren, zu fragen: „Was hast du dabei gefühlt?“ Das Kirchenpersonal ist dazu angehalten, zu klären, welche Rolle sie haben. Sie sind einfach Vertrauter und Freund, nicht Polizist oder Richter.

Die Bibel lehrt uns Vergebung. Ist das bei so gravierenden Vorfällen überhaupt möglich?

Vergebung heißt nicht, zu vergessen und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre. Es heißt, dass ich selber die Last, die ich mit mir seit dem Vorfall herum trage – die Wut, den Hass –, niederlegen kann, um wieder aufrecht durchs Leben zu gehen. Vergebung spielt ganz am Ende des Aufarbeitungsprozesses eine Rolle. Die Betroffenen sollten selber entscheiden, wann das Thema für sie dran ist. Christliche Kreise stehen in der Gefahr, das Thema Vergebung zu instrumentalisieren, damit endlich wieder Harmonie hergestellt wird. Sie scheuen sich, Täter des Hauses zu verweisen. Doch dass Betroffene und Täter getrennt werden, ist ein absolutes Muss für die Aufarbeitung. Wenn die betroffene Person irgendwann äußert, dass sie ihre Erlebnisse loslassen möchte, dann kann man ganz sanft das Thema Vergebung aufgreifen. Aber das ist ein langer Weg und muss vom Betroffenen selber kommen.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Zukunft?

Dass das Thema nicht einschläft. Täter passen sich an unsere Strategien an und finden neue Schlupflöcher. Deswegen müssen Mitarbeiter das Thema wach halten. Eine andere Herausforderung ist die Arbeit mit Tätern. Wir werden nicht um eine Arbeit mit den Tätern herumkommen. Wo sollen sie hin, wenn sie die Gemeinde verlassen? Es ist wichtig, Initiativen zu schaffen, die mit Tätern therapeutisch arbeiten und sie unterstützen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Jennifer Adam.

Christian Rommert engagiert sich seit zehn Jahren für das Thema Kindesschutz. Er hat im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) die Präventionskampagne „sichere Gemeinde“ mit entwickelt. Außerdem baute er eine Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt im BEFG auf. Vor kurzem veröffentlichte er das Buch „Trügerische Sicherheit“ über sexuelle Gewalt in Gemeinden. Foto: Christian Rommert
Christian Rommert engagiert sich seit zehn Jahren für das Thema Kindesschutz. Er hat im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) die Präventionskampagne „sichere Gemeinde“ mit entwickelt. Außerdem baute er eine Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt im BEFG auf. Vor kurzem veröffentlichte er das Buch „Trügerische Sicherheit“ über sexuelle Gewalt in Gemeinden.

Von: Jennifer Adam

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