Zu seinem Verhältnis zum Papst befragt, antwortete Thomas Schirrmacher: „Wir sind befreundet. Im Dezember, kurz vor seinem 81. Geburtstag, bin ich wieder zu einem privaten Besuch bei ihm. Wir duzen uns. Das klingt vielleicht eigenartig, ist aber ehrlich gesagt gar nichts Besonderes.“ Das sei früher bei Päpsten nicht möglich gewesen, doch heute hätten die wichtigsten Kirchenvertreter einen „heißen Draht“ zum Papst.
Papst Franziskus könne man als ein Geschenk für Protestanten betrachten, findet der Theologe. Man habe einen direkten Zugang zum Papst, und diese Direktheit sei „ein Schlüssel für die Ökumene und für das Verhältnis der Religionen miteinander“. Außerdem stelle er Gleichwertigkeit her, etwa wenn er sich vor dem griechisch-orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel Bartholomaios I. verbeugt habe. „Das ist bewundernswert“, so Schirrmacher.
„Franziskus hat sich gewaltige Feinde im Vatikan gemacht“
Der evangelische Theologe fährt fort: „Ich bewundere Franziskus, weil er etwas versucht, was eigentlich nicht funktionieren kann. Er hat die Kurie als den sündigsten und korruptesten Ort der Welt bezeichnet und dabei fast die Worte Martin Luthers vor 500 Jahren gewählt.“ Dennoch unterscheide er zwischen dem Charakter des Papstes und den lehramtlichen Positionen der katholischen Kirche, sagte Schirrmacher.
Das gehe etwa bei der Frage auseinander, ob Protestanten von katholischer Seite als echte Kirchen oder nur als kirchliche Gemeinschaften beurteilt werden. Durch seine Abweichungen von offiziellen Positionen der Kirche habe sich Franziskus „gewaltige Feinde im Vatikan gemacht“ und gehe ein hohes Risiko ein. Schirrmacher weiter: „Ich nenne Franziskus gerne den Michail Gorbatschow der katholischen Kirche. Das hören meine katholischen Freunde nicht besonders gerne …“ Der aktuelle Papst könne zudem mit dem Dogma der Unfehlbarkeit überhaupt nichts anfangen. „Er ist wirklich bereit, an die Schmerzgrenzen seiner Kirche zu gehen.“
Manchmal bringe Franziskus die Gedanken Luthers besser zum Ausdruck „als die meisten lutherischen Bischöfe“. Das liege unter anderem daran, dass er „ein Mann der Bibel“ sei, also viel in der Bibel lese ohne entsprechende Bibelkritik. „Das macht ihn zu einem echten Erben Luthers“, so Schirrmacher.
Der 57-jährige Theologe und Religionssoziologe Thomas Schirrmacher lehrt als Professor in Rumänien und Indien. Er ist stellvertretender Generalsekretär und Cheftheologe der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA), die 600 Millionen Protestanten vertritt und ihren Hauptsitz in New York hat. (pro)
Von: js