Der „Tatort: Hardcore“, produziert vom Bayerischen Rundfunk (BR), vom vergangenen Sonntag erregt die Gemüter. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei im Porno-Milieu waren begleitet von der Darstellung viel nackter Haut, anrüchiger Sprache und einschlägiger Sex-Szenen. Dem Sender erschien die Tatort-Folge für Jugendliche ab 12 Jahren geeignet. Viele Zuschauer haben sich über die Darstellungen entrüstet und halten diese für pornografisch. pro hat mit dem Professor für Soziale Arbeit und Medienpädagogik an der CVJM-Hochschule Kassel, Stefan Piasecki, gesprochen, wie weit die öffentlich-rechtlichen Sender gehen dürfen. Piasecki ist neben seiner Lehrtätigkeit als Jugendschutzprüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) tätig und kennt sich mit Belangen des Jugendschutzes aus.
pro: Herr Piasecki, hat der BR mit dem Tatort „Hardcore“ eine Grenze überschritten?
Stefan Piasecki: Die Abschätzung ist schwierig. Vielen erscheint das wohl so. Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen aber gesellschaftliche Themen ansprechen und auch kontrovers abhandeln dürfen. Dabei sind Grenznäherungen oder manchmal auch Grenzverletzungen dessen, was gesellschaftlich oder kulturell „erwartet“ wird oder als akzeptabel gilt, nicht immer ausgeschlossen. Letztlich sind sie es, die gesellschaftliche Diskussionen erst anstoßen. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass die Öffentlich-Rechtlichen selbst mit zweierlei Maß messen. Gewalt wandert ins Spätabendprogramm, Nacktheit ins Hauptabendprogramm. Wer das Thema Pornografie und Sex-Industrie inhaltlich behandeln will, muss das nicht im „Familienevent“ Tatort tun.
Steckt da eine Strategie hinter?
Seit einiger Zeit ist feststellbar, dass beim Tatort bewusst neue Zielgruppen angesprochen werden sollen. Alles wird schneller und dramatischer. Die Kosten pro Folge liegen nicht erst seit dem Anheuern von Til Schweiger im oberen Bereich. Der Tatort „Hardcore“ wurde jetzt zur besten Sendezeit gesendet, andere Produktionen wie der Tatort „Franziska“, in dem es 2013 um eine Geiselnahme ging, wurden noch ins Spätabendprogramm geschoben. Ähnlich erging es dem Film „Wut“, der Migrantengewalt erörterte – wohlgemerkt schon im Jahr 2005. Hier nun wird ein Aufregerthema gezielt im Hauptabendprogramm platziert und im Vorfeld entsprechend beworben. „Sex sells“ eben immer noch. Wenn ich 60 ausgelassene Studis in meiner Vorlesung nach der Pause wieder auf mich konzentrieren muss, brauche ich doch nur sagen ‚Und jetzt müssen wir über Sex sprechen‘. Das dauert keine fünf Sekunden, da sind alle still. Ich werde es mal mit ‚U-Bahn-Gewalt‘ oder der ‚Ausbeutung indischer Werftarbeiter‘ probieren, aber ich vermute, ‚Sex‘ ist da viel wirkungsvoller.
Worauf müssen sich die Zuschauer in Zukunft gefasst machen?
Sex und die Darstellung entsprechender Szenen sind auch im Tatort nicht neu – und auch im „Polizeiruf“ nicht. Der medienwirksame Aufschrei ist stets erwartbar und selbstverständlich heute so kalkuliert wie vor 40 Jahren, als im Tatort „Reifezeugnis“ 1977 die damals erst 16-jährige Nastassja Kinski nackt auftrat. Aus Sicht des Jugendmedienschutzes steht im Vordergrund, ob Personen in der Darstellung ihrer Menschenwürde beraubt werden, ob Zuschauer sexualisiert werden, ob Szenen geeignet sind, zur Nachahmung aufzufordern, ob sie voyeuristisch sind. Auch die explizite Darstellung von Geschlechtsteilen wird bewertet.
Und wie bewerten Sie dies?
Die Debatte ist doch künstlich, oder? Wir sehen auf der einen Seite zur besten Sendezeit Fernsehwerbung für eindeutige Fremdgeh- und Datingwebsites, aber über den Tatort regt man sich auf – ist das nicht eine sehr konstruierte Aufregung, die durch die Zeitungsschlagzeilen noch angestachelt wird? Ich habe Tweets gelesen, wo Nutzer ironisch anmerken, dass nur die Frauen komplett nackt zu sehen seien, die Männer hingegen nicht. Ein treffender Kommentar, wie ich finde. Das bezeichnet doch ganz schön, wer hier für wen einen Film gemacht hat.
Wie gut funktioniert die Selbstkontrolle der Sender?
Die Freiwillige Selbstkontrolle der Sender kenne ich aus eigener Anschauung nicht. Eine solche Produktion wäre bei FSF und FSK, deren Verfahren ich kenne, mit Sicherheit kontrovers diskutiert worden und wir Prüfer hätten wahrscheinlich auch darüber gestritten. Immer steht das Ringen um die beste Lösung im Sinne des Jugendschutzes im Vordergrund. Ob die Sender das in jedem Fall intern alleine und ebenso gut lösen können, ist fraglich.
Beschreiben Sie die Schwierigkeit für die Sender.
Die Sender haben das Ding doch finanziert, sie müssen den Sendeplatz füllen, sie brauchen die Quote. Und dann müssen sie zwischen diesen Zwängen entscheiden, wann der beste oder unschädlichste Sendeplatz ist. Und für ihre immer neuen Begründungen, warum die fernsehenden und auch nicht-fernsehenden Haushalte die steigenden Gebühren akzeptieren sollen, müssen sie mindestens soviel Aufmerksamkeit erzielen wie die Privaten. So gesehen, hat die ARD alles richtig gemacht.
Dass im Tatort Gewalt gezeigt wird, regt niemanden auf. Warum ist das bei Sexszenen anders?
Die Frage ist schwierig eindeutig zu beantworten. Gewalt ist immer – oder meistens, vielleicht vom Tyrannenmord abgesehen – negativ besetzt. Sex hingegen ist etwas Gefühlvolles, Zwischenmenschliches, der biologische Zweck dient dem Selbsterhalt der Spezies Mensch und der Weiterentwicklung einer Gesellschaft durch neue Generationen. Wer hier die unweigerlich vorhandenen Abgründe sichtbar macht, berührt und wühlt auf, vielleicht weil es an den Ursprung des Lebens geht. Gewalt ist im Sinne des Jugendmedienschutzes ein wichtiges Thema, aber meistens sind hier eben die Grenzen klar gezogen. Serien wie „Breaking Bad“ verwischen sie auf sehr geniale Weise, deshalb wirken die besonders verstörend.
Müsste die Darstelltung von Sex und Gewalt nicht stärker „reglementiert“ werden?
Von einer Reglementierung halte ich wenig. Mancher Beobachter hat eingeblendete Warnhinweise vorgeschlagen. Das wäre sicher ein gangbarer Weg, hätte mich als Jugendlichen aber erst recht angezogen. Dieser Tatort hat die Pornoindustrie thematisiert, in der es eben nicht zimperlich zugeht, wo es Gewalt, Ausbeutung, Unterdrückung und auch Verbindungen zur organisierten Kriminalität gibt. Ein schockierender und verstörender Tatort könnte wohl auch aufklärend wirken. Allerdings sehen wir ja an der Aufmerksamkeitskarriere dieser Folge, dass man über das Thema an sich kaum spricht. Nur über Nacktheit um 20 Uhr. Dieses Problem finde ich viel brisanter für die Gesellschaft.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Norbert Schäfer