Die Schüler stehen in einer langen Reihe auf dem Pausenhof. Betroffen schauen sie in eine laufende Kamera. Immer wieder tritt eine der Schülerinnen nach vorne. „Gott, wieso tust du nichts in Syrien?“ – „Warum tust du nichts gegen den Hunger in Afrika?“ Sie ärgern sich über das, was in der Welt ungerecht läuft. Und sie bringen es in diesem Video zum Ausdruck.
Die Schüler gehen in die neunte Klasse der Freiherr-vom-Stein-Schule in Wetzlar. Seit Beginn des Schuljahres nehmen sie an dem Wettbewerb „#95neuethesen“ des Hessischen Rundfunks (HR) teil. Sie sollen sich bei dem Projekt mit religiösen Themen multimedial auseinandersetzen. Der HR möchte wissen, was jungen Leuten heute unter den Nägeln brennt. So wie Martin Luther vor 500 Jahren seine Thesen formulierte, in denen er ausdrückte, was ihm äußerst wichtig war.
Wo offenbart sich Gott heute?
Um im Rahmen eines spannenden Praxisprojekts lebensnahe Themen besprechen zu können, entschied sich Religionslehrerin Ivonne Schweitzer dafür, mit ihren jetzigen Neuntklässlern am Projekt des HR teilzunehmen. Zunächst musste die Klasse dem Sender Thesen präsentieren – analog zu Martin Luther. Die Klasse hatte im Unterricht viele Geschichten behandelt, in denen Gott sich Menschen offenbart. Es ging um Mose, dem Gott in der Wüste seinen Namen Jahwe verriet, und den Bund mit dem Volk Israel. Beschäftigt haben sich die Schüler auch mit Paulus, der nach seinem Erlebnis vor Damaskus vom Christenverfolger zum Verkündiger von Jesus Christus wurde.
Zudem warfen die Schüler an dem Mittelstufen-Gymnaisum in der hessischen Kleinstadt auch einen Blick über den religiösen Tellerrand. Nach islamischer Vorstellung hat Allah Mohammed den Koran offenbart. „Die Schüler wollten wissen, ob es das heute auch noch gibt und wie das passiert“, sagt Schweitzer.
Ihre Thesen haben die Schüler schließlich auf den Satz zugespitzt: „Er hat die Schnauze voll von den Menschen.“ Dahinter stehen tiefgründige Fragen: Was wäre, wenn es keine Offenbarungen Gottes mehr gibt und woran könnten wir dann glauben? Die Nachrichten von Kriegen und Terror sprechen scheinbar gegen die Hoffnung und Liebe, für die der Glaube steht. Es sind ganz schön dicke Bretter, die die Schüler bohren und bis Dezember weiter bohren wollen. Mit ihrer Projektskizze haben sie die Fachjury auf jeden Fall überzeugt.
Die Wetzlarer sind eine von zwölf Gruppen in Hessen, die an dem Projekt teilnehmen. Das Spektrum der Themen ist bunt. Frankfurter Schüler wollen erarbeiten, ob Menschen auch verantwortlich sind für das, was sie nicht tun. Eine Klasse in der Nähe von Limburg fragt, ob You-Tuber schlechte Vorbilder sind oder nicht. In anderen Schulen geht es um Themen wie Gerechtigkeit oder die Bewahrung der Schöpfung. Das Projekt wird vom Kultusministerium gefördert.
Komplexes Thema auf aktuelle Ereignisse übertragen
Martin Luther stand im achten Schuljahr auf dem Lehrplan. Von daher kannten die Wetzlarer Schüler seine Thesen – und was er damit bezwecken wollte. Nun geht es darum, das komplexe Thema zu vereinfachen und auf die aktuellen Gegebenheiten zu übertragen. Die Schüler sitzen in Kleingruppen im Computerraum ihrer Schule. Im Internet sammeln sie Daten und Fakten zu Naturkatastrophen, Terror, Kriegen und zu menschlichen Einzelschicksalen und legen ein Dokument mit den Quellen an. Sie tauschen sich aus über den IS, Überschwemmungen in Amerika und Opfer von heftigen Unfällen. Sie überprüfen Zahlen und schreiben wichtige Fakten auf.
„Bleibt so nah wie möglich an aktuellen Ereignissen“, empfiehlt die Lehrerin, als sie ihren ersten Rundgang durch die Reihen macht und sich von der Qualität der Ergebnisse überzeugt. Eine Gruppe möchte die Rollstuhlbasketballer der Stadt interviewen. Sie könnten über ihr Leben mit der Behinderung berichten und davon, wie sie damit umgehen und ob sich das auf ihren Glauben auswirkt.
Auch der Name Samuel Koch fällt bei der Recherche. Koch war bei einer Wette in der ZDF-Sendung „Wetten, dass ..?“ über Autos gesprungen und dabei schwer verunglückt. Seitdem ist der Christ querschnittsgelähmt. Damit geht er offen und ehrlich um, auch mit seinen Fragen und Zweifeln am Glauben. Die Jugendlichen schreiben ihm eine Mail, in der sie ihn bitten, ihre Fragen zu beantworten.
„Wir wissen gar nicht, was Gott alles verhindert hat“
Für die kurze Videosequenz vom Anfang der Stunde war der Trainer des HR, Rolf Müller, schon einmal in der Schule. Er begleitet das Projekt seit den Sommerferien punktuell. Im Oktober kommt er wieder zu Projekttagen. Bis dahin haben die Schüler noch einen eng getakteten Zeitplan. Mit Müller produzieren sie Audios, Videos, Fotos sowie Texte und lernen, mit diesen Materialien eine multimediale Geschichte zu erzählen. Dann haben sie vielleicht Antworten auf einige ihrer Fragen: Wann stärkt der Glaube die Menschen? Und in welchen Situationen kommt er ihnen abhanden?
Schließlich sollen die Ergebnisse auf einer Internetplattform präsentiert werden. Dann können die Wetzlarer schauen, was die anderen teilnehmenden Schulen aus ihren Projekten gemacht haben. Sie können gemeinsam kommentieren und diskutieren. Am Ende der Stunde dürfen sich die Schüler dann noch einmal selbst positionieren. Können sie, obwohl vieles auf der Welt sehr ungerecht ist, an einen Gott glauben?
Ein Mädchen sagt: „Manche Sachen hätten ohne Gottes Eingreifen noch deutlich schlimmer verlaufen können.“ Eine andere ergänzt: „Wir wissen gar nicht, was er alles verhindert hat.“ Es sind erste Ansätze für die Antworten darauf, wie sich Gott genau offenbart. Konkreter werden wollen sie in den kommenden Wochen und Monaten. Die fertigen Ergebnisse dürfen sie dann im Februar 2018 bei einem offiziellen Empfang beim HR präsentieren.
Die Geschichte können sie im Christlichen Medienmagazin pro 5/2017 nachlesen, das sie ab kommender Woche per E-Mail: info@pro-medienmagazin oder telefonisch (06441/915-151) bestellen können.
Von: Johannes Weil