In Berlin sind Demonstrationen nichts Besonderes. Nahezu täglich mobilisieren gesellschaftliche Gruppen Hunderte bis Tausende, die sich vor Regierungsgebäuden oder dem Brandenburger Tor für deren Anliegen einsetzen. Für Israel, gegen die USA, für verfolgte Christen, für den in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel oder gegen den Kapitalismus – das alles hat seinen Platz in der Hauptstadt – und so auch der jährliche Marsch für das Leben, ein von Christen organisierter Schweigemarsch durch das Regierungsviertel gegen Schwangerschaftsabbrüche.
Natürlich ruft ein solches Anliegen Gegenproteste hervor. Linke Gruppen, die vor allem die Rechte der Frau gefährdet sehen, stören den Marsch jedes Jahr ebenso verlässlich, wie die Veranstalter ihn organisieren. Und ja, auch das ist erlaubt. Kritiker dürfen öffentlich hinterfragen, wie das Hochrecken weißer Holzkreuze auf Frauen wirkt, die sich für eine Abtreibung entschieden haben. Und sie dürfen fragen, inwiefern ein Marsch überhaupt etwas an der derzeitigen gesetzlichen Regelung ändern kann. Was aber nicht geht, ist zum einen, das Anliegen der tausenden Abtreibungsgegner zu marginalisieren und zum anderen, Menschen mit Behinderung respektlos gegenüberzutreten. Beides ist in diesem Jahr geschehen.
Falsche Zahlen und Rufe gegen Down-Syndrom-Jungen
Bei der Kundgebung vor dem Reichtsagsgebäude am Sonntag hörten die Teilnehmer des Marschs nicht nur Journalistin Birgit Kelle oder ein verlesenes Grußwort des katholischen Berliner Erzbischofs Heiner Koch. Auch ein 18-Jähriger mit Down-Syndrom kam zu Wort, berichtete von seinen Hobbys und all den anderen Dingen, die sein Leben lebenswert machen. Für viele Teilnehmer war das wohl einer der bewegendsten Momente des Tages. Warum die Gegendemonstranten selbst dann weiterbrüllen, wenn ein behinderter Junge auf die Bühne tritt, dem das Sprechen vor vielen Menschen offenbar nicht leichtfällt, muss niemand nachvollziehen können. Für Menschen mit Herzen in der Brust kommt so etwas nicht infrage, seien sie nun links, konservativ, Frauenrechtler oder Abtreibungsgegner.
Wer die Medienberichte über den Marsch für das Leben verfolgt hat, kommt nicht umhin, eine gewisse Zahlendiskrepanz festzustellen. Die Veranstalter meldeten am Sonntagabend 7.500 Teilnehmer, die Polizei sprach von rund 3.000. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass die Organisatoren von Demonstrationen bei ihren Zahlen etwas großzügiger sind und die Polizei eher geringer schätzt. Wer für Redaktionen darüber schreibt oder sendet, nennt in der Regel beide Zahlen als Hinweis darauf, dass die Wahrheit wohl irgendwo in der Mitte liegt. Überraschend war allerdings, dass etwa der Deutschlandfunk nur von einigen hundert Teilnehmern und tausenden Gegendemonstranten berichtete. Im für Journalisten wichtigen Terminkalender der Deutschen Presse-Agentur fand sich eine große Ankündigung der Gegendemo, jedoch kaum ein Hinweis auf den Marsch selbst. Widerspricht es nicht jeder Logik, den Anlass für eine Gegendemo unter „ferner liefen“ zu verbuchen, letztere aber groß bekannt zu geben? Und: Woher hat der Deutschlandfunk seine falschen Zahlen? Eine Anfrage dieser Redaktion dazu an den Sender ist noch unbeantwortet.
Nun mag der ein oder andere fragen, warum Zahlen denn hier überhaupt so wichtig sind. Diejenigen seien daran erinnert, dass Demonstrationen ein wichtiger und unerlässlicher Ausdruck demokratischen Handelns sind. Die Relevanz des Anliegens für die politische Öffentlichkeit leitet sich unter anderem aus der Zahl der Teilnehmer ab. Je mehr ihrer Stimme Ausdruck verleihen, desto eher werden sie gehört – das ist die Logik der öffentlichen Wahrnehmung.
Wenn Medien wissentlich oder unwissentlich den Eindruck vermitteln, statt tausender Abtreibungsgegner seien nur hunderte gekommen und zugleich den Auftritt der Gegener überbetonen, dann verzerren sie die Wahrheit und behindern den demokratischen Prozess der Meinungsbildung. Dabei sind sie doch eigentlich für das Gegenteil zuständig. (pro)
Von: al