Damals hinterm Schwarzen Block

Über G20 in Hamburg, die Suche nach Sinn und die Weltrevolution. Ein Gastbeitrag von Matthias Brender
Von PRO
Bibel-TV-Geschäftsführer Matthias Brender konnte sich am Rande des G20-Gipfels in Hamburg ein Bild von der Lage machen

Ende der Neunziger Jahre reiste ich als Teenager ins damals noch wilde, unsanierte Berlin und stürzte mich ins Getümmel zum revolutionären Ersten Mai. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wie so eine friedliche Demonstration in eine Straßenschlacht umschlägt – so wie es jetzt wieder bei G20 passierte. Wer fängt an, die Demonstranten oder die Polizisten?

Unter großen roten Fahnen, die über die Straßen gespannt waren, mitten in einer Menge bunter junger Menschen, marschierte ich für eine bessere Welt. Links und rechts von mir eine Phalanx von Polizisten in martialischer Kampfmontur. Aus den Lautsprechern des alten Bullis hinter mir schrie die Rockband „Ton Steine Scherben“: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ Wir ließen in Sprechchören die internationale Solidarität hochleben. Schräg neben mir ein Transparent von Che Guevaras so rührendem wie unkonkret-beliebigem Satz „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“. Wir waren jung, wir waren idealistisch und wir wollten „was tun“. Es war, als ob die Weltrevolution beginnen würde – und ich gebe zu, es fühlte sich gut, wichtig und bedeutend an.

Als sich die aufwallenden Erhabenheitsgefühle gelegt hatten und mein kritischer Verstand wieder funktionierte, begannen mir die Polizisten leid zu tun. Sie mussten schon damals für dieses Wochenende Überstunden schieben, um ruhig an der Straße in unbequemen Schutzanzügen auszuharren. Während sie den Demonstrationszug ermöglichten und die freie Meinungsäußerung sicherten, wurden sie von selbigem übelst beschimpft. Immer wieder flog eine Flasche aus der Anonymität des Schwarzen Blocks direkt vor mir in Richtung der Polizisten. Also bewegte ich mich an den Außenrand des Protestzuges und begann, mich bei den Polizisten im Vorbeilaufen zu entschuldigen: „Entschuldigung, Entschuldigung, danke für Ihre Arbeit, Entschuldigung, tut mir leid, Entschuldigung …“ – bis mich meine Begleiterin zurückrief. Sie hatte Sorge, dass sich die Polizisten veräppelt fühlen, womit sie wohl nicht unrecht hatte.

Später stoppten wir vor den Rohren der aufgefahrenen Wasserwerfer. Spannung in der Luft. Zum ersten Mal hörte ich jene berühmte Lautsprecher-Durchsage der Polizei, die mit der Eskalation einhergeht: „Die Demonstration wurde vom Veranstalter beendet, bitte gehen Sie nach Hause.“ Damit erlöschen die verfassungsmäßig garantierten Sonderrechte für eine angemeldete Veranstaltung, und die Polizei bekommt wieder alle Durchgriffsrechte wie Platzverbote und so weiter. Als ich nach vorne drängte, um das Weitere mitzubekommen, zwang mich das Brennen von Tränengas in den Augen zum schnellen Rückzug. Wir brachten uns in den Seitenstraßen in Sicherheit, während die anderen noch eine Weile auf Staatskosten ihr großes Abenteuerspiel mit der Polizei spielten. Wer es heftiger trieb, wurde eingefangen und an den Stadtrand gefahren, wo er sofort freigelassen wurde. Bis zum Abend waren sie alle wieder zurück. Das Risiko war somit überschaubar und bot keinen triftigen Grund, beim nächsten Mal nicht wieder mit dabei zu sein.

Alles ist heute so sicher und behütet. Wer das Abenteuer will, muss lange suchen, viel Geld für einen Bungee-Sprung ausgeben oder illegal werden. Wo gibt es noch Abenteuer, wo kann ich für die gute Sache kämpfen – und mehr tun, als einen Infostand aufzubauen und einen Facebook-Aufruf zu teilen?

Mehr als 20.000 Polizisten waren im Einsatz. Zahlreiche von ihnen wurden dabei verletzt. Foto: Matthias Brender
Mehr als 20.000 Polizisten waren im Einsatz. Zahlreiche von ihnen wurden dabei verletzt.

Da kam das letzte Wochenende in Hamburg gerade recht. G20 hat irgendwas mit Putin, Erdogan und Trump zu tun, mit viel Geld, mit reichen Ländern, und ganz demokratisch scheint es auch nicht zu sein. Also auf in den Kampf! So war es letztes Wochenende in Hamburg neben all der ernsthaften und unsere Demokratie voranbringenden Kritik und Demonstrationen auch ein riesiges Adrenalin-Spektakel für Halbstarke auf Staatskosten.

Böller und Bier im schwarzen Block

Wer fing nun damals mit der Gewalt an, die Polizei oder die Protestanten? Eine Betrachtung der unterschiedlichen Umstände bringt uns weiter: Die Polizisten mussten dort stehen, um die anderen Bürger und deren Rechte vor Ausschreitungen durch die Demonstranten zu schützen. Wenn die Demonstranten Steine auf Polizisten werfen oder Stahlkugeln aus ihren Zillen abschiessen, dann nehmen sie die Verletzungen der Polizisten in Kauf. Die Polizei vertritt uns alle, sie geht maßvoll und durch Gesetze kontrolliert vor. Die Demonstranten waren freiwillig da. Und sie suchten Krawall. Das war auf den Flyern zu lesen, und davon schwärmten sie mir in den Gesprächen vor der Demo mit leuchtenden Augen vor. Wobei jeder eine Geschichte vom Freund eines Freundes hinzufügte, der unglaubliches durch die Polizei erleiden musste und so die Gewalt gegen die Polizei zum notwendigen Freiheitskampf stilisierte. Es begann mit zunehmenden Provokationen aus dem Protestzug, geworfenen Böllern, immer wieder flogen Flaschen und Steine Richtung Polizei. Gleichzeitig stieg der Bierkonsum im Schwarzen Block. Und irgendwann sagt dann die Polizei „Stopp“ und schreitet massiv ein – und die Autonomen können wieder ihre Geschichte von der harten Polizei erzählen.

So ähnlich war es jetzt wieder in Hamburg. Die Livestreams von Spiegel Online oder Bild.de ließen einen die Randale betrachten wie ein Fußballspiel, dabei war es für die Polizisten traurige und gefährliche Arbeit für unser Gemeinwohl.

Brutaler und zielloser Terror

Warum konnte die Polizei die brennenden Autos nicht verhindern? Aus dem gleichen Grund, warum die Polizei nicht alle Einbrüche und alle anderen Straftaten verhindern kann: Weil wir nicht in einem Polizeistaat leben wollen, wo jeder und alles genau überwacht wird. Weil wir in Freiheit leben. Und es zum Glück noch keine flächendeckende Vollüberwachung gibt. Deshalb können sich einzelne Leute früh morgens um 6 Uhr in unbescholtene Wohnviertel treffen, in einem Hauseingang den schwarzen Pulli und die Maske überziehen, dann 15 Minuten lang als Gruppe brandschatzend eine Schneise der Verwüstung schlagen, ehe sie sich in einer dunklen Ecke wieder in normal gekleidete Passanten verwandeln. Sie schlendern in alle Himmelsrichtungen verteilt gemütlich in den Tag, während die Blaulichtfahrzeuge an ihnen vorbeirasen, um sich um das eben angerichtete Schlamassel zu kümmern. Brutaler und zielloser Terror.

Die Auseinandersetzungen am Abend um die brennende Schanze glich dem, was wir Hamburger jährlich am 1. Mai in der Schanze erleben – noch einmal verstärkt um viele erfahrenen Straßenkämpfer aus ganz Europa. Auch, dass Läden geplündert werden, ist in der Sternschanze nichts Neues, da war G20 mehr Anlass als Grund. Trotzdem darf das nicht passieren. Ob es sinnvoll war, die Schanze für ein paar Stunden den Randalierern zu überlassen und auf das SEK zu warten, um das Leben der Polizisten nicht in Gefahr zu bringen, werden die weiteren Auswertungen zeigen. Doch hinterher ist man immer klüger, ich habe Hochachtung vor den Leuten, die diese schwierigen Einsätze verantworten müssen.

Linksextremisten zerstörten in Hamburg dutzende Autos. Die Besitzer fanden nur noch ausgebrannte Wracks vor. Foto: Matthias Brender
Linksextremisten zerstörten in Hamburg dutzende Autos. Die Besitzer fanden nur noch ausgebrannte Wracks vor.

Scholz muss nicht zurücktreten

Deshalb halte ich auch von Rücktrittsforderungen an den Bürgermeister nichts. Olaf Scholz konnte sein Sicherheitsversprechen nicht ganz halten, aber es wurde alles aufgestellt, was die Polizei in Deutschland zu bieten hat. Dazu kam Hilfe aus dem europäischen Ausland. Zumal die Idee für den Gipfel in Hamburg von der Kanzlerin kam. Auch bei bester Planung kann etwas schief gehen. Pikanter als die Zukunft des Bürgermeisters ist der Verbleib des autonomen Zentrums „Rote Flora“, ein besetztes Musicaltheater, das die gewalttätigste Demo angemeldet hatte und die nachfolgenden „Aktionen” unterstützte. Würde man es schließen wollen, würde der Terror erst richtig losgehen. Wie wir in unserer Demokratie auf gute Weise mit diesem Problem umgehen ist nun die eigentliche Herausforderung.

Als Christ möchte ich mich mit vorschnellen Rücktrittsforderungen besonders zurückhalten. Ich weiß, dass ich selbst sehr fehlerhaft bin und aus der Vergebung lebe. Stattdessen ist für mich die Frage wichtig: Was kann ich als Nachfolger von Jesus tun, was würde Jesus tun?

„Global gerecht gestalten“: Gottesdienst zum Gipfel in Hamburg Foto: Matthias Brender
„Global gerecht gestalten“: Gottesdienst zum Gipfel in Hamburg

Nachdem ich nachts live die brennende Schanze bei Bild.de und auf Spiegel Online verfolgte, machte ich mich früh am nächsten Morgen auf, um den Polizisten etwas Gutes zu tun, die für uns alle den Kopf hinhielten. Ich fand sie im Gewerbegebiet, in dem Bibel TV seinen Sitz hat, noch in Schutzmontur in ihren Polizeibussen liegend. Sie hatten keine Zeit für ein richtiges Bett und mussten trotz harter Nacht gleich weiter zum nächsten Einsatz. Meine Schokolade nahmen sie gerne. Für den Kaffee bedankten sie sich höflich, verzichteten aber: Wer mitten im Demonstrationseinsatz in kompletter Schutzmontur zur Toilette muss, hat nämlich ein Problem.

Worum es bei G20 wirklich geht

Das ärgerlichste finde ich, dass die G20-Krawallmacher genau das verhinderten, was viele vorgeben zu wollen: Frieden, Umweltschutz, Solidarität und mehr Gerechtigkeit. Was kann man denn effektiv tun, wenn sich ein Regierungsoberhaupt egoistisch verhält, Grundrechte beschneidet, andere Völker leiden lässt? Man kann nur mit ihm reden, weil ein souveräner Staat nur schwer zu etwas gezwungen werden kann. Genau darum geht es bei G20: Eine fruchtbare Gesprächsatmosphäre für die Chefs der 20 größten Länder zu schaffen und dann die schwierigen Themen wie Frieden, Klimaschutz und Solidarität auf den Tisch zu bringen. Die Autokraten Erdogan oder Putin hätte radikal gewaltfreier, friedlicher und kreativer Protest mehr beeindruckt als die Krawalle, die sie selbst bei sich so niemals zulassen würden. Weil es Begegnung zur Verständigung braucht, bin ich für G20. Wenn es logistisch nicht anders geht, auch wieder in einer deutschen Stadt. Das ist besser als in einem der Länder, in denen Proteste grundsätzlich niedergeknüppelt werden.

Auch ich bin am Wochenende bei einer der vielen Demos mitgelaufen. Sie hieß „Hamburg zeigt Haltung”, und wurde nach einem gemeinsamen Gottesdienst von den Bischöfen unserer Stadt angeführt. Vermutlich zeigte jeder dort eine etwas andere Haltung. Mir war es einfach wichtig, einen Kontrapunkt für friedlichen Protest zu setzen und deutlich zu machen, dass ich auch dafür bin, dass sich auf dieser Welt so einiges ändert.

Hamburg zeigt Haltung: Neben den Krawallen gab es auch friedliche Proteste. Der „Schwarze Block“ machte nur eine Minderheit der Demonstranten aus. Foto: Matthias Brender
Hamburg zeigt Haltung: Neben den Krawallen gab es auch friedliche Proteste. Der „Schwarze Block“ machte nur eine Minderheit der Demonstranten aus.

Weil leidenschaftliche und radikale Jesus-Nachfolge so selten zu sehen ist, suchte ich als junger Mann damals wie viele anderen auch an den falschen Stellen. Gott hat in uns die Sehnsucht nach einer besseren Welt hineingelegt. Aber wie der Bischof Charles Jason Gordon im G20-Gottesdienst anmahnte: Wirkliche Weltveränderung geschieht durch Umkehr jedes einzelnen, die wir auch nur von Gott geschenkt bekommen können. In der Gottesbegegnung und im leidenschaftlichen Gebet steckt das eigentliche Abenteuer des Lebens und der Schlüssel zur Veränderung der Welt. Nur, weil wir Christen zu oft nicht so leidenschaftlich leben, kam ich damals noch nicht auf die Idee, das Abenteuer des Lebens radikal bei Gott zu suchen, zu finden und für ihn zu kämpfen – im Gebet, durch Hingabe in Liebe.

Meine Helden des Gipfels sind die Beter. In der Schanze beteten sie im Jesus-Center, während ihnen die Scheiben eingeschlagen wurden, für Frieden, für die Polizei und für die Randalierer. Es gab Gebetstreffen in 40 Kirchen, im Gebetshaus Hamburg und im ökumenischen Hafenforum wurde rund um die Uhr gebetet. Eine der Gebetsheldinnen wohnte bei meiner Frau und mir im Gästezimmer. Wir haben sie so gut wie nie gesehen. Sie kann nachts gegen 2 Uhr aus der Schanze zurück und ich sah sie morgens um 8 Uhr schon wieder im Gebetsraum auf ihren Knien. (pro)

Matthias Brender ist Geschäftsführer des Fernsehsenders Bibel TV. Er lebt und arbeitet in Hamburg.

Von: Matthias Brender

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