„In Zeiten, in denen uns die Arbeit so nah auf den Leib rückt, in der wir sie überall mit hinnehmen können, braucht es deutliche Zeichen der Distanz zu unserer Arbeit“, sagte Schendel im Vortrag „Beruf und Berufung. Wie aktuell ist das reformatorische Berufsverständnis“. Er ist Mitherausgeber des gleichnamigen Buches, das anlässlich der Weltausstellung Reformation in diesem Jahr erschien. Schendel ist seit 2011 Referent für Religions- und Kirchensoziologie im Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Hannover und ist dort für die Untersuchung der heutigen Arbeitswelt im Zusammenhang mit den reformatorischen Vorstellungen zuständig.
„Arbeit“ kein Fluch, sondern Segen
Martin Luther kannte nur das Wort ‚Beruf‘, verwendete es aber Synonym mit der heutigen Begrifflichkeit ‚Berufung‘. Einen ‚Beruf‘ hatten nach damaligem Verständnis nur Priester, Mönche und Nonnen. Alle anderen hatten ‚Arbeit‘. Die wurde nach damaligem Verständnis unweigerlich mit Plage, Anstrengung und Strafe in Verbindung gebracht. Der ‚Beruf‘ dagegen ging mit Armut, Gehorsam und Keuschheit einher. Diese selbstauferlegten Pflichten waren für Luther jedoch ein Ausweichen der eigentlichen Aufgabe eines jeden Christenmenschen; nämlich dort zu Wirken wo er bereits ist, im Dienst am Nächsten. Für ihn war ‚Arbeit‘ kein Fluch sondern ein Segen, ein Akt der Fürsorge und Nächstenliebe.
Damit ist Luther nah dran, an den Fragestellungen die im Zuge des postmaterialistischen Wertewandels bezüglich der Berufswahl wieder eine Rolle spielen, erklärte Schendel. „Es geht nicht mehr nur ums Geld“, sagte er. Vielmehr sind eine sinnvolle Tätigkeit, das Einbringen der eigenen Kompetenzen und der Wunsch nach Weltgestaltung entscheidend. Das entspräche ganz dem biblischen Verständnis, die Erde zu bebauen und zu bewahren, erläuterte Schendel weiter. „Wenn Geschäftsleute heute ins Berufsleben starten, mit dem Ziel, die Welt zu verändern, entspricht das der Weltzuwendung Luthers“, konstatierte er. Zu diesem kommen beim Reformator immer die Verantwortung vor dem Nächsten und vor Gott hinzu.
Sinnsuche nicht nur im Beruf
Darauf, dass dieser Idealismus auch seine Grenzen kennt und zur Gefahr werden kann, ging der Autor, Theologe und Dozent in seinen Ausführungen ein. Die Subjektivierung der Arbeit, die größer werdenden Freiräume sowie flache Hierarchien und Flexibilität bergen die Gefahr der Selbstausbeutung und Selbstüberforderung. An dieser Stelle setze Luthers Rechtfertigungslehre an und relativiere diese Sinnorientierung: „Den Sinn meiner Arbeit kann ich nicht selber schaffen, er wird mir geschenkt“, erklärte Schendel.
Diese Ansicht betreffe allerdings nicht nur die berufliche Arbeit, betonte der 52-Jährige. Für Langzeitarbeitslose zum Beispiel können die Sinninseln auch im Ehrenamt oder der Nachbarschaftshilfe liegen. Luther selbst kannte keine Unterscheidung zwischen Berufs- und Familienarbeit. Für ihn war alles Tun im Glauben ein Dienst und weil es im Glauben geschehe, wertvoll. Das betreffe auch politisches, zivilgesellschaftliches und soziales Engagement, sagte Schendel. Es sei Aufgabe der Kirche sich dafür einzusetzen, dass auch diese Arbeit geschützt werde.
Gunther Schendel arbeitete nach seiner Ordination 1994 als Pfarrer in Norddeutschland. 2007 promovierte er an der Georg-August-Universität in Göttingen. Mit dem Thema Beruf und Berufung in Geschichte und Gegenwart beschäftigte er sich am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD gemeinsam mit Anika Füser und Jürgen Schönwitz. Schendels Vortrag fand im Rahmen der sechsten Themenwoche zur Weltausstellung Reformation in Wittenberg statt, die unter dem Motto „Wirtschaft, Arbeit, Soziales“ steht. Noch bis zum 10. September 2017 werden jede Woche zu einem Themenbereich gesellschaftlich brisante Fragen in Workshops, Podiumsdiskussionen und innovativen Formaten behandelt. Die Themenwochen greifen Ideen der Reformation auf, sollen Menschen zusammenbringen und Impulse für ein gelingendes Zusammenleben geben. Sie beginnen jeweils mittwochs und dauern bis Montag. Kommende Themen sind unter anderen Frieden, Spiritualität, Menschenrechte und Medien. (pro)
Von: Mirjam Petermann