Viele Flüchtlinge, die Deutschland erreichen, sind damit an einem sicheren Ort angekommen – müssen aber in ihrem Inneren noch Sicherheit und Stabilität finden. Der Theologe und Pädagoge Michael Borkowski berichtete auf dem Kongress für Psychotherapie und Seelsorge in Würzburg von seinen Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit. „Viele Migranten haben schon eine enorme Lebensleistung hinter sich, aber sie haben kein Selbstwertgefühl“, erklärte er. Trotz der Willkommenskultur in Deutschland und der vielen enagierten Helfer erlebten Flüchtlinge oft ein Gefühl der sozialen Deplatzierung. „Die monate- oder gar jahrelange Wartezeit auf den Ausgang des Asylverfahrens ist ein großer zusätzlicher Stressfaktor“, sagte der therapeutische Seelsorger, der eine Beratungspraxis bei Hannover leitet.
Eine besondere Herausforderung sei es für die Ankommenden, die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und ihrer Heimat zu erfassen. In mehrheitlich muslimischen Staaten etwa sei das Leben weitreichenden Regelungen unterworfen, während in Europa die individuelle Entfaltung des Einzelnen kaum eingeschränkt werde.
Geflüchtete Muslime hätten nicht selten Verletzungen durch ihre Religion erfahren und sich deswegen innerlich von ihr distanziert, ohne dies einem größeren Personenkreis kundzutun. „Muslime berichten uns aber auch von Träumen, in denen ihnen Jesus und andere biblische Figuren begenet sind“, berichtete Borkowski. „Sie suchen Kontakt zu christlichen Migranten und Gemeinden.“
Bissam, ein Flüchtling aus Bagdad, berichtete, er habe sich nach der Ankunft in Deutschland gefragt, wie das Land mit so vielen unterschiedlichen Kulturen umgehen könne. In seiner Heimat versuche die Mehrheitskultur, Minderheiten zu vernichten. „Der respektvolle Umgang, die Liebe zueinander und zur Menschheit haben mir geholfen“, sagte er über das Leben in Deutschland. Abdullah, ein Flüchtling aus der irakischen Stadt Mossul, lobte die Höflichkeit der Deutschen. Was er hingegen vermisse, sei der starke Zusammenhalt der Familie, wie er in seiner Heimat üblich sei.
Die Sozialarbeiterin Maria Melender kritisierte die oft nicht nachvollziehbare Langsamkeit, mit der Asylverfahren von den Behörden bearbeitet würden. „Menschen, die bleiben dürfen leben lange in der Angst, gehen zu müssen. Und denen, die keine Aussicht auf Asyl haben, wird zu lange Hoffnung gemacht“, sagte sie. Borkowski appellierte an die Politik, in der kommenden Legislaturperiode endlich ein Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen, das dabei hilft, treffsicherer Hilfe zu leisten.
Fremd im eigenen Land?
Am Mittwochabend referierte der Psychotherapeut Samuel Pfeifer über die Angst, die viele Menschen vor dem Fremden empfinden. Der Mensch sei von Natur aus darauf angelegt, sich vor dem Fremden zunächst zu schützen. Ein Bedürfnis dazu gebe es heute aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen, sagte Pfeifer, der an der evangelischen Hochschule Tabor in Marburg „Religion und Psychotherapie“ lehrt. „Die Gesellschaft hat viel von dem aufgegeben, was früher Geborgenheit gab. Den Menschen fehlen diese Traditionen, Glaubensinhalte und Rituale.“ So lasse sich auch die Angst, durch die Flüchtlinge „fremd im eigenen Land“ zu werden, erklären.
Es sei Aufgabe der Politik, diese Ängste ernstzunehmen und Sicherheit zu veritteln. Mitmenschlichkeit und Machbarkeit müssten miteinander verbunden werden – „und wir werden sehen, dass es gut ist, dass Menschen hier ihren Raum finden. Wir werden nicht fremd sein im eigenen Land, sondern gemeinsam etwas aufbauen.“
Der 9. Internationale Kongress für Psychotherapie und Seelsorge mit rund 900 Teilnehmern findet derzeit in Würzburg unter dem Thema „Das Fremde – in mir, in dir, in Gott“ statt. Veranstalter des Kongresses ist der Verein „Akademie für Psychotherapie und Seelsorge“ (APS, Bad Homburg). Die Akademie sieht ihre Aufgabe nach eigenen Angaben darin, Begegnungen zwischen Psychotherapie und christlicher Seelsorge in Wissenschaft und Praxis zu fördern. Sie möchte durch ihre Arbeit dazu beitragen, Sinn- und Werteorientierung in psychotherapeutisches sowie therapeutisches Wissen und therapeutische Methodik in seelsorgliches Denken und Handeln zu integrieren. Ziel ist, durch Austausch und gemeinsame Arbeit unter Therapeuten und Seelsorgern eine qualitative Verbesserung der Beratung und Behandlung von Ratsuchenden in beiden Fachgebieten zu erreichen. (pro)
Von: mb