Wer im Innenhof der Reformationskirche in Berlin-Moabit dieser Tage in den Reformator steigt, begibt sich auf die Suche nach einer neuen Welt. Denn gemeint ist damit nicht etwa Martin Luther – wäre sprachlich auch seltsam – sondern eine quietschbunte Fotokabine. Wie alles in Luthopia ist sie luthergerecht umgestaltet worden. Hier geht es nicht in erster Linie darum, Bilder von sich zu machen, sondern die Benutzer sollen für eine Videoinstallation die Frage beanworten: „Wenn du morgen aufwachst und die Welt ist gerechter geworden, woran merkst du das?“
Gleich nebenan können sie sich metallisch schimmernde Klebefetzen auf die Kleidung pappen. Als Zeichen des durschscheinenden Heiligen in jedem. Und einen neuen Namen können sie sich auch ausdenken und am T-Shirt befestigen. Der muss mit der Reformation oder der Kirche oder Gott zu tun haben. Und mit Science Fiction.
Das zumindest erklärt mir Sebastian Leenen vom Team der sogenannten Refo. Luthopia ist ihr Kirchentagsprojekt. „Luther hat ermöglicht, den Blick auf Jesus und seine Utopie zu richten“, erklärt er den Titel, während Bob Marley-Musik aus den im Innenhof aufgestellten Boxen wabert. Jesus habe die Idee geprägt, dass Gottes Reich schon auf Erden beginne. Zugleich müsse der Mensch ihm entgegengehen. Für das alles stehe Luthopia.
Auf einem alten Ledersofa flezen sich neben dem DJ-Pult eng umschlungen zwei Refo-Besucher, während eine Hand voll beginnt, gleich neben ihnen ausgelassen zu tanzen. Sie schütteln die Beine und Burkhard Oelmann alias „Luth Skywalker“ lenkt meinen Blick auf ein von ihm kreiertes Lutherbild, das zur Meditation anregen soll. Zu sehen ist das Cranach’sche Konterfei des Reformators. Kaum merklich wechselt es in Endlosschleife und unendlich langsam die Farbe. „Den einen Luther gibt es nicht“, soll das Werk verdeutlichen. So vielschichtig wie der farbliche Wechsel sei der Reformator gewesen. Wer übrigens zu viel der ausschließlich antialkoholischen Getränke in Luthopia zu sich genommen hat, darf sich auf der Luthoilette erleichtern. Den Wortspielen sind schier keine Grenzen gesetzt.
Was soll das alles, darf man da mit Recht fragen. Die Antwort ist bereichernd. Denn die Refo ist weit mehr als Lutherspaß für fünf Tage. Die Gründer der Kiezkirche verstehen sie als Konvent. Wer hier Teil ist, lebt Kirche nicht nur am Sonntag. Schon bald ziehen rund 25 der Christen ins zur Kirche gehörende Nebengebäude. Die Wohnungen werden gerade renoviert. Außerdem arbeitet die Gruppe an der Eröffnung einer hauseigenen Kita. Leben, Glauben und Wachsen sollen hier eng verzahnt sein.
Möglich ist das, weil die Gründer das alte Kirchegbäude per Erbpacht für die nächsten 99 Jahre quasi geborgt bekommen haben. Einzige Bedingung: Sie müssen es renovieren und instandhalten. Das allerdings ist eine ordentliche Aufgabe. Vier Millionen wird der Aus- und Umbau noch kosten, schätzt Tobias Horrer, heute „Melangeton“. Das Ziel ist der Refo die Sache wert. Denn hier soll erlebbar werden, wie über gesellschaftlich konstruierte Grenzen hinweg Gemeinschaft entsteht.
Der Hof füllt sich, während die Reporterin sich gemeinsam mit dem „Art Bishop“, dessen wahrer Name ein Geheimnis bleibt, an den Basteltisch begibt, um einen Teeologen zu gestalten. Das ist ein Teebeutel mit einem beschreibbaren Papierstück am Ende. „Da kannst du einen Gedanken aufschreiben und ihn dann ordentlich ziehen lassen“, sagt der selbsternannte Geistliche. Ein paar Nachbarn tanzen immer noch, am Tisch nebenan hat eine Frau mit bunt-geblümtem Kopftuch Platz genommen. Sie ist nicht die einzige Muslima auf dem Kirchengelände. Am Abend wird im Innern der Kirche noch ein Theaterstück aufgeführt werden, das sich mit Vorurteilen gegenüber dem Islam beschäftigt. Auch Workshops zu den Themen „Gemeinschaft“, „Neue Kirche“ oder „Neue Stadt“ bietet die Refo an. „Wir sind niedrigschwellig“, erklärt Horrer am Ende noch die Grundidee der Kirche. Und das wird hier wie alles ganz praktisch. Eine Stufe, so sagt er, habe den Innenhof einst vom Bürgersteig des Kiezes getrennt. „Die haben wir gleich weggemacht.“ (pro)
Von: al