In seinem Buch „Als Christ die AfD unterstützen?“ schildert der Autor Andreas Malessa seine Eindrücke von der evangelikalen Basis und zeigt, dass auch die Leitungsgremien zu einer von biblischer Ethik her gebotenen Flüchtlingshilfe aufrufen. Dazwischen liegt eine Grauzone der Verführbaren. Im Interview der pro erklärt Malessa, mit welchen Einstiegsdrogen Wertkonservative sich von der AfD anlocken lassen. Zur Unterscheidung der „Geister“ empfiehlt er die christologische Brille.
Herr Malessa, ein Kerngedanke Ihres Buches „Als Christ die AfD unterstützen?“ ist, dass Christen nicht gut beraten sind, wenn sie ihre politische Heimat bei der AfD suchen. Was hat Sie bewogen, das Buch zu schreiben?
Ich habe mich überreden lassen, ein Büchlein für die Verführbaren unter den Wertkonservativen zu schreiben. Das ist die Zielgruppe. Für meine Frau, meine Kollegen und Freunde brauche ich nicht die Endlosschleife der Gleichgesinnten verlängern. Ich möchte möglichst gerne die – wenn es denn so viele sind – eine Million theologisch konservativer Protestanten und eine unbestimmte Zahl konservativer Katholiken erreichen, von denen ich viele persönlich kenne, in deren Kreisen ich auch umfänglich unterwegs bin mit Referaten und Predigtdiensten. Diese Menschen schätze ich menschlich und geistlich sehr. Auch dann, wenn ich manche ihrer theologischen Positionen oder Frömmigkeitspraktiken nicht teile. Ich spüre, dass sie eine Zielklientel des Wahlkampfmarketings der AfD geworden sind.
Woher kommt dieses Gefühl?
Spielen Sie mal für eine Minute den Wahlkampfchef der AfD. Wo ist noch eine Gruppierung, die Sie noch nicht erreicht haben? Die NPD-Wähler und Neonazis haben Sie über Björn Höcke alle eingemeindet, die Antisemiten auch, die Rassisten sowieso und alle, denen Sie erfolgreich Angst vor Muslimen gemacht haben. Sie entdecken, dass es eine CDU/CSU-geneigte, wertkonservativ-bürgerliche Mitte gibt, die möglicherweise kirchlich engagiert ist, und die man mit leckeren Einstiegsdrogen ködern kann: „Wir sind auch gegen Abtreibung. Wir sind auch gegen die Homo-Ehe. Wir sind auch gegen Gender-Übertreibungen!“ Von solchen Verführbaren lernte ich einige kennen und für die habe ich das Buch geschrieben.
Wie wollen Sie die Zielgruppe erreichen?
Diejenigen, die die AfD sowieso ablehnen, werfen mir jetzt schon vor, ich hätte mich viel zu weit den Konservativen entgegen gereckt und könnte möglicherweise rechts aus dem Fenster fallen. Auf ihre Frage bezogen: Ich rechne die Chancen eher gering ein, weil überzeugte AfD-Wähler eher zur postfaktischen Gesellschaft gehören, das heißt Statistiken glauben sie nicht. Anderen Medien, als den von ihnen gelesenen – „Junge Freiheit“, „Preußische Allgemeine“, „Compact“, „Nationalzeitung“ etc – glauben sie nicht. Die gefühlte, panisch angefeuerte Wirklichkeitswahrnehmung hat die Wirklichkeit ersetzt. Deshalb rechne ich mir auch höchstens auf der emotionalen Ebene Chancen aus. Ich bitte in meinem Buch die AfD-wählenden Glaubensgeschwister: Atmet doch einmal den Geist ein, den AfD-Demonstrationen, Pegida, Höcke und Co. verbreiten. Es gibt doch noch das Charisma der Geisterunterscheidung, oder? Dass man als Christ „Tentakeln wie ein scheues Insekt“ entwickelt, und rechtzeitig merkt, wenn Verbrecherisches als tolerabel erklärt wird. Ich würde die Zielgruppe gerne bei ihrer Empathiefähigkeit, bei der christlichen Nächstenliebe packen und dass sie doch bitte nicht als „Protestantengesäusel und Bischofskitsch“ verhöhnen, was an Engagement in der Flüchtlingshilfe vor Ort geleistet wird von ihren Brüdern und Schwestern.
Sie sprechen in Ihrem Buch keinem AfD-Wähler ab, Christ zu sein. Dennoch halten Sie Christentum und AfD für nicht kompatibel. Weshalb genau?
Weil ich denjenigen als Christen anspreche, der unabhängig von seiner konfessionellen Karteizugehörigkeit, der Gesinnung, der Haltung Jesu Christi nacheifert. Der sich also Jesus von Nazareth, die Bergpredigt und die biblischen Kerntexte, die reformatorischen Bekenntnisse seit Martin Luther, zu eigen gemacht hat und davon überzeugt ist. Damit ist völlig unvereinbar, dass ein Christ sexistisch sein kann, also gegen Frauen und Gleichberechtigung, dass er rassistisch sein kann. Christen betrachten Menschen als Ebenbilder Gottes, aus der leitet sich ihre Menschenwürde ab. Unabhängig von Leistungsfähigkeit, Herkunft oder Rasse. Wer sich das auf die Fahnen geschrieben hat in Taufe und Konfirmation und Kirchenmitgliedschaft, der kann meiner Meinung nach nicht eine Partei unterstützen, die nationalsozialistisches, rassistisches und in der Sache letztlich faschistoides Gedankengut transportiert.
Werden denn diese wertkonservativ gesinnten Menschen in den etablierten Parteien nicht mehr genügend gewürdigt?
Da setzt jeder seine eigene Messlatte, was „genügend“ wäre. Gibt sich die CDU/CSU katholischer, fühlen sich 31 Millionen Konfessionslose nicht genug gewürdigt, stellen SPD und Grüne die Homo-Ehe der Hetero-Ehe gleich, fühlen sich Evangelikale nicht gewürdigt, stellt die FDP die Kirchensteuer in Frage, jaulen alle kirchlichen Diakonieträger auf. Man kann sich durchaus über Einzelentscheidungen seiner Landes- oder Bundesregierung ärgern. Aber deswegen eine Partei zu wählen, die Teile des Grundgesetzes, die parlamentarische Demokratie an sich und die Gewaltenteilung als „Merkel-System“ diffamiert und abhobelt – das wäre so, als würde ich unsere Wohnung zertrümmern, weil ein paar Fenster undicht sind und der Wasserhahn tropft.
Reden Sie mal mit Leuten, die sich engagieren in den Partei-Ortsvereinen. Ich tingle als Prediger und Autor durch mehrheitlich evangelische und da wiederum mehrheitlich pietistisch-evangelikale Kreise und erlebe vor Ort, überall, ein unglaubliches Engagement für Flüchtlinge. Eine Herzenswärme und eine zeitraubende, kostspielige und kräftezehrende Tätigkeit für Ausländer, für sozial Schwache, für Bedürftige etc. Eine große Dialogbereitschaft für Andersdenkende und Andersglaubende über die ACK (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland) und die DEA (Deutsche Evangelische Allianz). An der Basis – wenn man sich denn dort hinbegibt – herrscht eine völlig andere Realität als die, die in der säkularen Öffentlichkeit über Evangelikale vermutet werden muss. Und auf der Führungsebene? Alle evangelikal-pietistischen kirchenleitenden und gemeindebundleitenden Gremien haben im Herbst 2015 unisono und eindeutig zu einer von biblischer Ethik her gebotenen Flüchtlingshilfe aufgerufen. Die AEM (Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen), die DEA, VEF (Vereinigung Evangelischer Freikirchen) usw. Oben, auf der Bischofsebene, ist die Nummer klar. An der Basis ist die Nummer auch klar. Und dazwischen? Da wollen uns einige ultrakonservative AfD-Sympathisanten weismachen, alle „wahren Christen“ seien enttäuscht von den etablierten Parteien. Das ist nicht so.
Gibt es nicht auch Leute, die ihrem Gewissen folgen, wenn sie aus Parteien austreten? Es hat in der CDU in den vergangenen Jahren große Diskussionen um einen „Linkstrend“ gegeben, derzeit gründen sich mehrere parteiinterne konservative Plattformen. Es scheint also ein breiter empfundenes Problem zu sein, dass sich die CDU zu wenig für Konservatives interessiert.
Wenn eine Erika Steinbach die CDU-Bundestagsfraktion verlässt, bedeutet das nicht, das die CDU kein Interesse mehr an konservativen Menschen und Wählern hätte. Einzelne Austritte aus Parteien darf man nicht vorschnell als symptomatisch ansehen oder arg hoch hängen. Jeder der austritt, möchte als Märtyrer geehrt werden. Auf dem Scheiterhaufen ist es warm und hell. Deswegen springen da manche gerne drauf. Das ist aber nicht repräsentativ, glaube ich. Natürlich kann ich unzufrieden sein mit diesem oder jenem, bei der CDU, der SPD oder den Grünen – ich muss nur irgendwann mal die rote Linie ziehen und entscheiden, was noch demokratische Parteien sind und was nicht.
Was halten sie von der christlichen Kleinparteien, die ganz bewusst auf biblische Programmatik setzen?
Nichts. Das sind verschenkte Stimmen. Das weiß jeder. Die haben nicht mal die Chance, als Opposition in den Bundestag zu kommen.
Sollen sich ihrer Meinung nach Christen denn überhaupt politisch engagieren?
Ja natürlich. Das sollen sie nicht nur, das müssen sie sogar, wenn sie ihren Glauben ernst nehmen. Der Glaube ist vordergründig eine private Entscheidung, ein Lebensstil. Er hat aber sofort Auswirkungen auf mein öffentliches Verhalten. Ob ich mit den Unterrichtsinhalten meiner Kinder einverstanden bin, ob ich Aktien besitze, ob ich um ein gutes Betriebsklima in meiner Firma bemüht bin oder nicht. In meiner Generation war das nach dem Abitur die Frage, gehe ich zur Bundeswehr oder nicht. Der Glaube ist keine Privatsache. Übrigens berücksichtigt das auch unser Grundgesetz im Artikel 4. Deshalb bin ich dankbar, dass wir kein laizistischer Staat sind, wie Frankreich, wo jeder religiöse Bezug aus dem öffentlichen und politischen Leben verbannt werden muss. Wir sind ein weltanschaulich neutraler, säkularer Staat, damit ich und jedermann Religionsfreiheit genießen und für seine Überzeugung werben darf. Deshalb sind wir aber kein moralisch indifferenter Staat – überhaupt nicht. Unser Grundgesetz fußt und zielt auf Werte, die das Judentum und das Christentum geschaffen haben. Deswegen bin ich unbedingt dafür, dass man sich als Christ politisch engagiert. In allen Parteien gibt es praktizierende, bekennende Christen. Bodo Ramelow bei der Linken, Kerstin Griese und Frank-Walter Steinmeier bei der SPD, Hermann Gröhe und Volker Kauder bei der CDU, Winfried Kretschmann und Konstantin von Notz bei den Grünen, um nur einige wenige zu nennen. Schauen Sie mal, wie politisches Engagement sogar missionarisch wirken kann: Seit September 2015 kooperieren tausende frommer Gemeinden mit säkularen Vereinen in der Flüchtlingshilfe. „Die Flüchtlinge haben unsere Gemeinde indirekt aus ihrem kulturellen, oftmals belächelten Ghetto, herausgeholt, indem plötzlich kirchenferne Einheimische im Gottesdienst auftauchen“, erzählte mir ein fränkischer Pastor.
Wir sind im Reformationsjubiläumsjahr 2017. Ist ein Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen denn in naher Zukunft möglich, auch wenn sich der Islam vor einer oft geforderten Reformierung weiter verschließt? Die AfD spielt mit der Angst vor dem Islam. Ist die Angst unberechtigt?
Man mag vor „dem Islam“ – vor welchem der vielen Spielarten eigentlich? – Angst haben, weil der Koran eine Theokratie voraussetzt und mir manche Muslime meine Religionsfreiheit nehmen würden, wenn sie in der Mehrheit wären, ja. Deswegen aber jedem muslimischen Gebrauchtwagenschrauber Eroberungsgelüste zu unterstellen, deswegen Misstrauen zu säen und Hass zu schüren gegen deutsche Steuerzahler muslimischen Glaubens – das ist schäbig, finde ich. Der Islam müsste eine theologische Reformation und einen Prozess durchlaufen, wie ihn die evangelische und die katholische Kirche mit der Aufklärung erlebt und erlitten haben. Das hat bei uns auch ein paar Jahrhunderte lang gedauert, aber viele Muslime vermissen genau das an ihrer Religion. Während des arabischen Frühlings sind tausende Muslime für ihren Traum eines demokratiefähigen Islam gestorben. Ich finde es bräsig und bequem, aus der warmen Wohnstube heraus zu rufen: Reformiert euch gefälligst, Ihr Muslime! 1400 Jahre lang ging auch die katholische Kirche von einer Quasi-Theokratie aus und hat die Demokratie ja wahrlich nicht erfunden. Die Gretchenfrage an Muslime – „Wie hältst Du`s mit der Demokratie?“ – führt zu der tiefergehenden Gretchenfrage: „Welche Stellen Deiner Heiligen Schrift sind Dir verbindliche Handlungsanweisung für heute und welche nicht?“ Diese Frage stellen die Konfessionslosen aber auch uns, den Christen! So. Und was unterscheidet unsere Art die Bibel zu lesen von der Art, wie Salafisten den Koran lesen? Wir lesen die Bibel durch die christologische Brille. Wir lesen sie „von hinten her“, nachdem Gott sein textgewordenes Wort durch sein menschgewordenes Wort, durch Jesus Christus, geoffenbart und erläutert hat. Jesus hilft mir zu unterscheiden, was regionalreligiöse Texte und was universell und zeitlos gültige ethische Maxime sind. Eine solche „christologische Auslegung“ kann es für den Koran naturgemäß nicht geben. Welche Koran-Suren für Muslime verbindlich sind und welche nicht – das, finde ich, dürfen und müssen wir sie schon fragen! Aber Muslimen eine historisch-kritische Koran-Exegese zu empfehlen, die manche Evangelikale für ihre eigene Heilige Schrift kämpferisch ablehnen – das finde ich heuchlerisch. Wenn ausgerechnet christliche Fundamentalisten – die also mit einem modern naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriff die Textoberfläche des vielgestaltigen Redens Gottes für „widerspruchsfrei und irrtumslos“ erklären müssen, um dem Auferstandenen vertrauen zu können – wenn solche Evangelikale den islamischen Fundamentalisten eine moderne Koranexegese empfehlen, dann halte ich das für einen Witz. Die intellektuellen Muslime merken das auch.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Norbert Schäfer.
Andreas Malessa: „Als Christ die AfD unterstützen?“, Brendow, 112 Seiten, 9,00 Euro, ISBN 978-3-86506-980-1
Von: nob