Berlinale-Chef Dieter Kosslik hatte noch vor dem Auftakt des Festivals angekündigt, es solle um neue Zusammenhalte in der Gesellschaft gehen, um Orte wie die Familie, wo Menschen sich geborgen fühlen, neu nachdenken und dann „mit einem positiven Ergebnis“ dieser neuen Welt nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen gegenübertreten. Schluss also mit dem Kunstkino, das sich nur um Politik und Gesellschaftskritik dreht? Nur teilweise. Zwar hat den Wettbewerb um den Goldenen Bären und auch den Preis der Ökumenischen Jury mit „On Body and Soul“ ein Film gewonnen, der die surreale Liebesgeschichte zweier seelenverwandter Eigenbrödler erzählt. Ja, dieses Filmfest 2017 hat mehr über die Liebe und den Verlust erzählt als über Flüchtlinge und egozentrische Präsidenten. Unpolitisch war es dennoch mitnichten.
Von den Nazis in die Türkei
Da wäre etwa der Auftaktfilm „Django“. Die französische Produktion zeigt jenen Abschnitt im Leben der Gitarristenlegende Django Reinhardt (Reda Kateb), in dem der Sinto vor den Nationalsozialisten aus seiner Heimat Paris fliehen muss und versucht, mit seiner Familie die Schweizer Grenze zu erreichen. Der Fim ist wahrlich kein Meisterstück, lässt er doch wichtige Teile der tatsächlichen Fluchtgeschichte Django Reinhardts völlig unbeachtet, zeigt aber deutlich, wie die Kunst Despoten herausfordert. Und schon findet sich der Zuschauer im Heute. In der Türkei etwa, die die Pressefreiheit zunehmend einschränkt, oder in islamistischen Staaten, wo Kunst der Ideologie zu folgen hat, und nicht zuletzt in den USA unter Donald Trump, wo Regierungssprecher gezielt Falschmeldungen verbreiten, um die Politik des Präsidenten zu stützen. In „Django“ siegt am Ende die Kunst. Unvergesslich ist eine Szene, in der der Gitarrist die Nazis zu seiner Musik wie Puppen tanzen lässt, weil auch SS-Soldaten am Ende Menschen mit Sinn für das Feine sind und sich im Schönen treiben lassen wollen.
Auch Aki Kaurismäkis Film „Die andere Seite der Hoffnung“ ist zutiefst politisch, lässt den Zuschauer das aber nicht spüren. Der finnische Kultregisseur zeigt das Grauen der Flucht ganz beiläufig. Nicht in blutigen Bildern und dramatischen Dialogen, sondern ganz nüchtern als alltägliches Geschehen überall um uns herum. Khaled (Sherwan Haji) kommt auf einem Transportschiff nach Finnland. In einer der ersten Filmszenen gräbt er sich, zunächst versteckt unter Kohle und Dreck, in die Freiheit. In einer Bahnhofsdusche wäscht er sich die schwarze Farbe von der braunen Haut, etwa so, wie er seine Identität in den kommenden anderthalb Stunde von sich abfallen sehen wird. Denn sein Antrag auf Asyl scheitert. Khaled, der aus Syrien in die Türkei, nach Griechenland und über Ungarn und Serbien schließlich in seine neue Wunschheimat gelangt, soll zurück nach Aleppo. Die Behörden halten die Stadt für sicher, am Abend verkünden ihm Nachrichten das Gegenteil. Also entschließt er sich zum illegalen Aufenthalt und findet Unterschlupf bei einem Restaurantbesitzer (Sakari Kuosmanen), der ihm Arbeit, Unterschlupf und einen gefälschten Pass besorgt. Kaurismäki erzählt mit erstaunlich viel Humor die Geschichte vom Verlust der Identität eines Geflüchteten, der sich erst dann wieder richtig zu Hause fühlt, als in der Abschlussszene sein Leben bedroht ist. Derart und mit soviel künstlerischer Freiheit nimmt kein anderer Wettbewerbsbeitrag den Zuschauer mit in die politischen Probleme des Hier und Jetzt.
Und dann gab es aber doch diese Orte des Wohlfühlens, Filme über das Miteinander. Besonders deutlich wurde dies bei der außer Konkurrenz gezeigten Fortsetzung des Kultfilms „Trainspotting“ aus dem Jahr 1996. Zwanzig Jahre später treffen in „T2“ die wegen ihrer Drogensucht zweifelhaften Helden Renton (Ewan McGregor), Begbie (Robert Carlyle), Sick Boy (Jonny Lee Miller) und Spud (Ewen Bremner) wieder aufeinander. Was sie im Jahr 2017 verbindet, ist, dass sie sichtlich gealtert sind – und ihr Leben nach wie vor nicht im Griff haben. Spud hängt noch immer an der Nadel, Sick Boy will ein Bordell eröffnen, Renton steht vor seiner Scheidung und Begby ist gerade aus dem Gefängnis geflohen. In all dem Scheitern zeigt Regisseur Danny Boyle meisterlich und mit ausgesprochener Liebe zu seinen Charakteren, was Freundschaft sein kann. Eine lebenslange Verbindung, entstanden aus zufälligen Begegnungen, angefüttert mit gemeinsamen Erlebnissen – und einer größeren oder kleineren Liebe für den Anderen. So dürfen nicht nur Fans des ersten Teils gerührt verfolgen, wie der Looser der Gruppe, Spud, handschriftlich die alten Geschichten der Freunde aufschreibt und vorträgt – und damit wie schon im ersten Teil der einzige ist, der zwischen Geldnot, Drogensucht und Rachegelüsten erkennt, worum es im Leben wirklich geht.
Familie – alles andere als Idylle
Dass die Familie nicht immer ein Ort der Wärme und des Auruhens ist, zeigten gleich zwei Wettbewerbsbeiträge, die sich nicht nur im Thema sondern auch in der Machart gleichten. Da wäre zum einen der amerikanische Wettbewerbsbeitrag „The Dinner“, hochcharätig besetzt mit Hollywoodstar Richard Gere. Die Brüder Stan, gespielt von Gere, und Paul (Steve Coogan) treffen sich gemeinsam mit ihren Ehefrauen Claire (Laura Linney) und Barbara (Chloë Sevigny) in einem Nobelrestaurant zum Abendessen. Zwischen karamellisierter Schwarzwurzel und französischem Käse diskutieren sie das Verbrechen ihrer Söhne: Die Jugendlichen haben eine Obdachlose angezündet und getötet. Den Politiker Stan wird die Tat die Karriere kosten, wenn sie öffentlich wird, den psychisch erkrankten Paul möglicherweise den Verstand. In diesem an „Gott des Gemetzels“ erinnernden Kammerspiel ist alles anders als zunächst angenommen. Gut ist Böse, Böse ist Gut, der schwarze Jugendliche verpfeift die weißen, der Politiker zeigt sich als verantwortungsvoller Familienmensch und der Hochschullehrer Paul als unberechenbarer Misanthrop. Das und das außergewöhnliche Restaurant-Setting reichen, um zu unterhalten, obwohl der Film beträchtliche Längen hat und unter einer Schwäche leidet, die besonders erfahreneren Kinogängern den Spaß an Filmen rauben kann: Regisseur Oren Moverman will dem Zuschauer alles, aber wirklich jeden Handlungsstrang in diesem Stück erklären. Nichts wird dem Grips des Publikums überlassen, jeder Abgrund ausgeleuchtet.
Eine Schwäche, die „The Party“ nicht teilt. Auch bei der britischen Produktion handelt es sich um ein Kammerspiel, das nach und nach die Abgründe seiner Protagonisten aufdeckt. Die Geschichte: Janet (Kristin Scott Thomas) hat das Ziel ihrer Karriere erreicht und einen wichtigen Posten im Gesundheitsministerium inne. Das feiert sie, in dem sie ihre engsten Freunde einlädt. Es erscheinen neben Ehemann Bill (Timothy Spall): Das lesbische und Drillige erwartende Pärchen Martha und Jinny (Cherry Jones, Emily Mortimer), die beste Freundin April (Patricia Clarkson) mit ihrem esoterisch angehauchten Mann Gottfried (Bruno Ganz) und der mit Finanzen arbeitende Tom (Cillian Murphy). Auch hier hällt die Idylle nicht lange. Bill beichtet eine Affäre mit Toms Frau und zudem, dass er totkrank ist. Die Genderforscherin Martha wiederum gesteht ihrer Partnerin, dass sie Angst vor dem Mutterwerden hat. Und so dreht sich das Beziehungsspiel in zunehmender Geschwindigkeit, bis schließlich einer halbtot am Boden liegt und die gewiefte Politikerin ihre Waffe auf jemand anderen richtet.
Regisseurin Sally Potter bemüht sich nicht um politische Korrektheit. Sie überzeichnet alle gleichermaßen: Den britischen Intellektuellen, die Politikerin mit Hausfrauentalenten, den koksschnupfenden Finanzhai und die verheiratete Feministin, die sich darum sorgt, drei Jungen großziehen zu müssen. Familie und Freunde – das ist auch hier keine Wohlfühlsphäre sondern ein Ort der Geheimnisse und Lügen. (pro)
Von: al