Sonntagnachmittag. Neben mir auf dem Tisch steht eine große Tasse mit heißem Kaffee und ich schwanke zwischen lila und grün. Irgendwas mit blau würde aber auch gut passen. Nein, es geht nicht um die richtige Kleiderwahl, sondern um die richtige Farbe für ein Eichhörnchen. Denn vor mir liegt ein Postkartenbuch von Johanna Basford zum Ausmalen. Die Schottin entwirft Malbücher für Erwachsene. Selbst wer ihnen nicht in den Auslagen der Buchläden begegnet, dürfte an dem Trend kaum vorbeikommen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, die Süddeutsche Zeitung und andere Medien berichteten entweder ironisch oder ernsthaft über den Hype, den Basford mit ihren Büchern auslöste. Das Malen soll helfen, zur Ruhe zu kommen und abzuschalten von Internet, Smartphone und digitaler Kommunikation. Denn was haben Erwachsene in der heutigen Zeit nötiger als das?
Nichts, dachte auch ich mir und kaufte mir das Postkartenbuch „Mein Zauberwald“. Postkarten – so meine Idee – haben im Gegenteil zum Malbuch den Vorteil, dass sie sich am Ende noch verwerten lassen. Sprich: Freunde und Familie können mit selbstgemalten Karten beglückt werden. Ich stelle fest, dass das zwar eine schöne Idee ist, das Ausmalen aber zu einer Sisyphusarbeit wird und der künstlerischen Freiheit aufgrund der winzigen Motive Grenzen gesetzt sind. Ohne spitze Buntstifte und Fineliner kommt man hier nicht weit.
Spaß macht es trotzdem und schon nach wenigen Minuten ist das einzige, worüber ich nachdenke, die richtige Farbkombination und -intensität für das Eichhörnchen. Basford ist mittlerweile nicht mehr die einzige, die Malbücher für Erwachsene entwirft. Auch Bücher mit christlichen Inhalten lassen sich finden. Das Buch „Dein Licht strahlt in mein Leben“, veröffentlicht bei Gerth Medien, kombiniert fantasievolle Motive mit Bibelzitaten, die zusätzlich zum Entspannungseffekt auch Impulse geben sollen. Basfords Motive gefallen mir aber am besten. Sie sind besonders filigran, haben einen Touch von Märchenwelt, beflügeln die Fantasie. Deshalb kann ein Eichhörnchen auch lila oder grün sein statt einfach braun.
Dass das mit der Entspannung funktioniert, merke ich schon nach wenigen Minuten. Mein Smartphone – sonst mein ständiger Begleiter – liegt unberührt weit am anderen Ende des Zimmers, der Computer ist schon lange aus. Der Kopf wird frei.
Mal wieder Kind sein
Der Kunstpsychologe Georg Franzen bestätigt mein Empfinden. Einen Grund für den Malbuch-Trend sieht er in der ständigen Beschäftigung der Menschen mit den Medien. „Es ist ein Bedürfnis da, etwas kreativ zu gestalten“, sagt der Leiter des Instituts für Kunstpsychologie in Celle. Das Malen sei ein kreativer Prozess, der innere Spannungen abbauen könne und sich positiv auf die Synapsen im Gehirn auswirke. Gerade angesichts der zunehmenden Digitalisierung sei das wichtig. „Es ist ein gesunder Mechanismus, dass uns die Reizüberflutung überfordert. Nicht umsonst ist der Markt voll von diesen Büchern.“ Der Trend sei jedoch nicht nur eine kurzfristige Flucht vor Smartphone und Computer, sondern stelle eine gezielte Gegenbewegung zur Digitalisierung dar: „Da nimmt jemand bewusst einen Stift in die Hand und fängt an, etwas auszumalen.“ Das sei etwas anderes, als „irgendwelche Zahlen einzugeben oder sich die ganze Zeit mit dem Smartphone zu beschäftigen“. Ein Ausgleich eben. Auf die Frage, wie er denn auf Berichte reagiere, die den Trend für Erwachsene als „lächerlich“ abtun, sagt Franzen: „Es ist wichtig, auf die Kindebene zurückzukommen und einfach mal loszulassen.“ Mal wieder Kind zu sein in dieser „reizüberfluteten Welt“, das begrüße er. Malen sei dabei nicht nur ein Mittel, um zu entspannen und Alltagsstress abzubauen, auch schwierige oder traumatische Erfahrungen könnten damit verarbeitet werden. „Es geht dabei um das Denken in Bildern, Farben und Formen“, sagt der Psychologe. Gefühle wie Wut, Ärger, Trauer bekämen bestimmte Bilder und manifestierten sich in Zeichnungen. Wer ein Gefühl nicht verbalisieren könne, schaffe es vielleicht, sich durch das Malen auszudrücken. „Durch Farben wird es nach außen gebracht. Derjenige kann sich dann viel besser damit auseinandersetzen“, sagt Franzen. Das Malen schaffe eine Entlastung. Genauso wichtig sei es aber auch als Ausdruck von Freude. Durch die kreative Betätigung ließen sich innere Ressourcen aufbauen und aktivieren. Kreative Prozesse seien deshalb für den Menschen wichtig. „Von allen Seiten bekommen wir Eindrücke und haben Anforderungen mit Zeitlimits“, sagt Psychotherapeut Michael Dieterich, Gründer der Deutschen Gesellschaft für Biblisch-Therapeutische Seelsorge (BTS). Alles müsse immer „ruckzuck“ gehen. Es sei deshalb keine Überraschung, dass die Menschen „gestresst und verspannt“ seien und sich Gegenbewegungen wie der Malbuch-Trend formten. Wichtig sei es, die Stressfaktoren, die für die Verspannung verantwortlich seien, auszuschalten. Dabei könne ein kreativer Prozess wie das Malen helfen. Aber auch Spaziergänge oder Sport seien dafür geeignet. „Mir als Psychologen ist es egal, was die Menschen tun, um zur Entspannung zu kommen. Man soll aber nicht drüber lächeln, wenn einige auch Malbücher dazu nehmen“, sagt Dieterich. Beim Malen werde die ganze Aufmerksamkeit auf einen Punkt gerichtet. „Unsere Sinnesorgane blenden anderes mehr oder weniger aus.“ Das helfe, um von der Umwelt abschalten zu können.„Das Schönste kommt erst noch“
Damit die oft durch digitale Mittel verursachte Verspannung gar nicht erst Überhand gewinnt, raten Dieterich und Franzen zu einem gesunden Umgang mit Smartphone und Computer. Franzen rät, Auszeiten zu „trainieren“ und zum Beispiel an einem Tag in der Woche auf Handy oder E-Mails zu verzichten. Besonders Eltern sollten darauf achten, dass nicht schon Kinder in eine Abhängigkeit von den Medien gerieten. Aus seiner Sicht als biblisch-therapeutischer Seelsorger hat Dieterich einen besonderen Rat: Als Christ habe man keine Veranlassung, den Dingen nachzujagen. „Das Schönste kommt erst noch“, sagt er. Christen hätten eine „ungeheure Hoffnung“, dass das Leben auf dieser Welt nicht das einzige sei. Deshalb dürfe „das Ziel nicht nur ein Irdisches sein“. Der Psychotherapeut ist überzeugt, dass unter anderem diese Einstellung zu einem Leben mit weniger Stress verhilft. Darüber hinaus rät er Ähnliches wie Franzen: Die Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, findet Dieterich zwar „wunderbar“, man dürfe die Dinge „aber nicht über sich herrschen lassen“. Auch ich habe bei meinem Selbstversuch gemerkt, dass es gut tut, Computer und Smartphone für einige Zeit mal außen vor zu lassen. Die Kaffeetasse ist mittlerweile leer und mein Eichhörnchen erstrahlt nun in Grün und Gelb mit einer Prise Schwarz. Ich bin zufrieden mit meinen Werk und finde es fast schade, dass es nun fertig ist. Es wird sicher nicht bei einem Sonntagnachmittag bleiben, den ich dem „Zauberwald“-Postkartenbuch widme. Und dann gibt es ja auch noch den „Geheimen Garten“… Dann aber als Malbuch, denn schließlich lassen sich die fertigen Bilder auch wunderbar in der Wohnung aufhängen. (pro)Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 2/2016 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos unter der Telefonnummer 06441/915151, via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online.