Debatten zur Flüchtlingsfrage sind im Moment in den Medien allgegenwärtig. Existenzängste der Flüchtlinge auf der einen Seite, die Sorge der Bürger vor Überlastung auf der anderen. Angela Merkels motivierender Optimismusslogan „Wir schaffen das“ wird durch die zweifelnde Gegenfrage „Aber wie?“ in Frage gestellt. Die Komplexität dieser Situation überfordert. Dennoch müssen konkrete Entscheidungen getroffen werden, die, wie Jens Spahn es in seinem neuen Buch „Ins Offene“ formuliert, Teil des „größten gesellschaftlichen Experiments seit Jahrzehnten“ sind.
Der Druck ist enorm, doch die Grundlagen für eine gute Entscheidung sind das Zuhören, das Abwägen und das kritische Hinterfragen. Dafür möchte das Buch Raum geben. Die 21 Autoren der Artikelsammlung bieten kein Patentrezept, aber Handlungsmöglichkeiten. Mitunter provozieren ihre Thesen, die an der Lackschicht „gefühlter Tabuthemen“, wie Grenzkontrollen, gescheiterter Integration und finanzieller Belastung, kratzen. Aber auch viel Lob und Begeisterung für die „deutsche Willkommenskultur“ ist dabei. Anerkennend bestätigen einige Autoren, dass das christliche Erbe der „Nächstenliebe“ zu einem Leitstern wurde. Deutschland ist begehrt, für viele Ausländer ein „place to be“, ein „Sehnsuchtsort“, wie Spahn es treffend formuliert. Diese Mischung motiviert, schockiert und macht nachdenklich. Ein paar Streiflichter:
Grob teilt sich das Buch in die fünf Bereiche „Flucht und Würde“, „Werte – aber welche?“, „Festung Europa?“, „Vor der eigenen Haustüre“ und „Wirtschaft und Wohlstand“ ein. Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Bernd Fabritius, eröffnet die Diskussion. Mahnend erinnert er an die Geschichte der Vertreibung des deutschen Volkes nach dem Zweiten Weltkrieg. Heimatverlust ist ein schweres Schicksal. Treffend zitiert er diesbezüglich die Charta der deutschen Heimatvertriebenen: „Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat zu trennen, bedeutet, ihn im Geiste zu töten.“ Dieses Schicksal treffe nun sieben Millionen Flüchtlinge aus Syrien und zwei Millionen aus Nigeria. Sie fliehen vor Krieg und Terror, wie es der Chefredakteur von bild.de, Julian Reichelt, in drastischen und eindrücklichen Worten in seinem Beitrag schildert:
„Nachdem es in Syrien einige Jahre zuvor eine Münzreform gegeben hatte, füllten Assads Soldaten die Fassbomben mit alten Geldstücken. ‚Nach den Angriffen bekommen wir immer wieder verletzte Kinder, deren Körper mit Löchern übersät sind‘, erzählte mir ein syrischer Arzt. ‚Die Löcher haben genau den Durchmesser der alten kleinen Münzen.‘“
Diese und weitere grausame Beispiele sollen aufwecken und vor allem die „besorgten Bürger“ herausfordern. Die Flüchtlingsströme wurden Reichelts Meinung nach zum innenpolitischen Problem, weil die „Außenpolitik jahrelang versagt“ hat. Deutschland habe sich nicht eingemischt und die „gröbsten Untaten des Mordregimes von Bashar al-Assad“ verhindert. Den Flüchtlingen Schutz zu bieten, sei folglich eine moralische Verpflichtung, weniger eine Angstdebatte.Sind Ängste in dieser Auseinandersetzung völlig unberechtigt?
Ängste und Unsicherheiten sollten laut Sineb El Masrar, Gründerin des multikulturellen Frauenmagazins „Gazelle“, artikuliert werden. Irrationale Angriffe extremistischer Prägung, wie beispielsweise „Naziaufmärsche“ und andere menschenfeindliche Ideologien dürfen aber keine Antwort auf Überforderung sein. Ihnen müsse entschieden entgegen getreten werden. Ebenso dürfe salafistischen Gruppen nur wenig Raum gegeben werden. Dies könne bedeuten, dass manche deutsche Muslime ihre „eigenen Familienmitglieder, ihre Gemeinde oder sich selbst infrage stellen“ müssen. Der Bayerische Staatsminister der Finanzen, Markus Söder (CSU) formuliert klar, dass es für Flüchtlinge keinen „Rabatt auf das Grundgesetz und die Rechtsordnung Deutschlands“ geben darf. Jeder der die „rote Linie“ übertrete, beziehungsweise Straftaten begehe, müsse das Land verlassen. Sein Asyl- und Gastrecht sei verwirkt. Die stellvertretende Vorsitzende der CDU, Julia Klöckner, betont ebenfalls, dass das Grundgesetz kein „Bauchladen“ sei, „aus dem man sich einzelne Rosinen picken“ könne. Weiter plädiert sie dafür, dass Sprachkurse verpflichtend sein sollten. Ihrer Meinung nach sei es nicht angemessen, dass in „Zuwandererfamilien in der zweiten und dritten Generation“ Deutsch noch keine Muttersprache sei. Die Verweigerung von Sprachkursen sollte folglich sanktioniert werden. Doch selbst mit Sprachkursen sei nicht sicher, dass die Integration gelingt und die Flüchtlinge Arbeit finden. Der Hauptgeschäftsführer und Mitglied des Präsidiums des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Markus Kerber, nimmt eine ähnlich pessimistische Perspektive ein. Die Flüchtlinge müssten in relativ kurzer Zeit einen Prozess durchlaufen, für den „unsere Gesellschaften Jahrhunderte gebraucht haben“. Nur ein Fünftel sei für den deutschen Markt hochqualifiziert.Grenzsicherung gewährleistet die Souveränität der Helfer
Kontrollierte Einwanderung und Grenzen sollten kein Tabuthema sein, ist der Tenor des Buches. Fabritius sieht darin keinen Angriff auf die Würde migrationswilliger Flüchtlinge. Grenzen seien ein Ausdruck souveräner Staaten, die andernfalls der Anarchie Tür und Tor öffnen würden. Das Staatssystem habe laut Spahn in Teilen schon versagt. Die Grenzen seien unsicher, das Recht nicht durchgesetzt, 300.000 Menschen ohne Registrierung verweilten anonym in Deutschland. Ohne den Einsatz von „Bürgermeistern, Landräten, von THW, Feuerwehren und Rotem Kreuz (…) hätten wir längst eine humanitäre Notlage in einem der reichsten Länder der Welt.“ Die Willkommenskultur müsse trotzdem aufrecht erhalten werden, meint Herfried Münkler, Dozent für die Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Gefährdung durch eine „lange Verweildauer der Flüchtlinge in Massenunterkünften, wo sie psychisch verwahrlosen,“ sollte aber nicht unterschätzt werden. Die emotionalen Bedürfnisse müssten berücksichtigt werden.Bereichern Flüchtlinge die Kultur?
Sowohl der Bischof von Essen, Franz-Josef Overbeck, als auch Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für islamische Theologie, gehen auf die Religiosität der Flüchtlinge ein. Laut Overbeck seien viele der Flüchtlinge tief religiös: „Sie zeigen uns, was Exodus heißt, nämlich sich mit einer Hoffnung auf Erlösung aufzumachen, in Bewegung zu geraten, im Vertrauen auf Gott seinen Verheißungen zu folgen und Neues zu wagen.“ Die Erfahrungen der Flüchtlinge mit dem extremistischen Islam würde sie laut Khorchide auch offener machen für einen gemäßigten „spirituellen Islam“, der eine Bereicherung für Europa darstelle. Wichtig sei aber, so der ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Klaus von Dohnanyi, dass die Flüchtlinge das „christliche Element unserer westlichen Kultur wertschätzen“. Dieses Element sei die Grundlage der westlichen Willkommenskultur und stehe im Widerspruch zum „brutalen Streit muslimischer Konfessionen“, die ihnen diese Hilfsbereitschaft offenbar nicht biete. Alles in allem ist zu Jens Spahns Artikelsammlung kein harmonisierendes Resümee zu erwarten. Pessimismus und Optimismus finden sich im Wechselspiel. Die Autoren sind klug gewählt und profiliert. Welche politischen Auswirkungen dieses Buch hat, vor allem innerhalb der CDU, bleibt noch abzuwarten. Die Diskussion ist jedenfalls angestoßen, und das ist eine wirkliche Bereicherung. (pro)Jens Spahn (Hg): „Ins Offene: Deutschland, Europa und die Flüchtlinge“, Herder Verlag, 208 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-451-34997-3