Durch die steigenden Kirchenaustritte müssen die beiden großen Kirchen in Deutschland zunehmend überlegen, ob sie in ihre Gebäude oder in das kirchliche Personal investieren wollen. Der Pilgerpastor Bernd Lohse will sich mit einer Lösung, die auf Kosten der historischen Bauten geht, nicht abfinden. Im Hamburger Abendblatt schrieb er am Montag einen Gastbeitrag, in dem er dazu auffordert, neue Ideen zur Bewahrung und Belebung der Kulturgüter zu entwickeln. Ansonsten drohe eine wirkliche Verarmung unserer Gesellschaft.
Kirchen, sagt Lohse, wiesen über sich selbst hinaus. Durch Kirchgebäude werde der Himmel in Erinnerung gebracht, werde Raum gegeben für Glaube, Hoffnung und für eine Liebe, die vertraute und auch fremde Mitmenschen einschließe, sogar Feinde. „In Kirchen findet Liebe statt: Nächste werden geheilt und versorgt, Trauernden zugehört, Tränen abgewischt, Fremde werden heimatlich.“ Die Schließung einer Kirche sei deshalb der „GAU kirchlichen Handelns“, schreibt Lohse, „für eine Gemeinde das Schmerzlichste, das geschehen kann.“ So etwas sei das Ende der Hoffnung, sehe aus wie die Abwesenheit von Glauben. Die Schließung von Kirchen dokumentiere den Zustand einer Gesellschaft, die den Wert ihrer symbolischen Orte vergessen habe. Dabei seien solche Orte genau das, was unsere Gesellschaft jetzt brauche: Für Nächstenliebe und die gute Nachricht Jesu könne es nie genug Gebäude geben. Allerdings müssten Kirchen das „Image eines Vereinsheimes“ loswerden, fordert Lohse.
Auch Atheisten mögen Kirchen
Dass Kirchen wertvolle Orte sind, die selbst Atheisten gerne besuchen, bestätigt der Schriftsteller Wolf Wondratschek in einem Essay, den die Süddeutsche Zeitung am Montag abgedruckt hat, nachdem er den Text auf dem Rheingau Musikfestival vorgetragen hatte. Er schildert dort, was er beim Besuch einer Kirche erlebt hat. Von Erleichterung ist die Rede. An diesem Ort müsse er nichts tun. Hier schweige er am liebsten, würde aber auch gerne singen, wenn er könnte. Nicht einmal glauben müsse er hier. Er könne einfach sein, allein mit sich selbst. „Nichts hier hat, obwohl überdacht, eine Grenze“, schreibt Wondratschek. „Das Unsichtbare, eingefasst in hohe Bögen, in Überwölbungen, Kuppeln (…) Architektur als Ereignis“. Symbole wiesen ihn unmissverständlich auf die Sterblichkeit des Menschen hin: „Er (der Tod) ist da, ich spüre es. Nicht auf Friedhöfen ist er da, sondern in Kirchen.“ Er konfrontiere ihn – mit seinem Leben. Beim Hören einer Kantate, die Johann Sebastian Bach unmittelbar nach dem Verlust seiner Frau geschrieben habe, falle ihm die Schwerelosigkeit auf, die diese Musik verbreite. Bach sei Medizin für die Seele – „und gegen den vom Saufen schweren Kopf“ zitiert er augenzwinkernd einen russischen Maler.
„Abriss wäre die schlechteste Lösung“
Beides, die spirituellen Erfahrungen auf der einen Seite und die Institution Kirche auf der anderen Seite, zusammenzubringen, das scheint jedoch für viele Menschen immer schwerer zu werden. Darauf weist Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom letzten Freitag hin: Die Menschen träten nicht aus der Kirche aus, weil sie nichts mehr mit dem christlichen Glauben anfangen könnten. Viele hätten einfach nicht mehr das Gefühl, dass die Institution Kirche den eigenen Glauben inspiriere oder bereichere. Kirchenmitglieder würden deshalb bald auch im Westen Deutschlands einer Minderheit angehören. Eine von Kirchensteuern unabhängige, aber trotzdem nicht zweckentfremdete Nutzung der Kirchgebäude schlägt aufgrund dieser Gegebenheiten Bernd Lohse vor. „Abriss“, schreibt Lohse, „wäre die schlechteste Lösung“. (pro)