Das ZDF zeigt Montagnacht das Psychodrama „Tore tanzt“, in dem ein junger Mann auf dramatische Weise seinem Vorbild Jesus nacheifern will. Bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes wurde der Film 2013 uraufgeführt. Eine Filmkritik von Anna Lutz.
Von PRO
Foto: Junafilm
Tore will Gott folgen. Bei den Jesus-Freaks lässt er sich taufen
Eine Warnung vorweg: „Tore tanzt“ wird Sie begleiten, auch nachdem Sie den Fernseher wieder ausgemacht haben. Denn was es da zu sehen gibt, ist grausam, schwer auszuhalten und bringt den Zuschauer an seine Grenzen. Vielleicht wird sich der ein oder andere wünschen, den Film nicht gesehen zu haben, so wie wir uns manchmal wünschen, das Leid Verhungernder oder Totkranker verschwände, wenn wir die Augen schließen – oder nur lange genug dafür beten.
Vom Beten versteht Tore, atemberaubend gespielt von Julius Feldmeier, viel. Der unbeholfen und naiv wirkende junge Obdachlose ist bei den Hamburger Jesus Freaks untergekommen. Hier hat er sich taufen lassen und Freunde gefunden. Auf einem Rastplatz trifft er das Paar Benno und Astrid, dargestellt durch Sascha Alexander Gersak und Annika Kuhl. Ihr Auto springt nicht mehr an. Statt den Motor zu reparieren, beten Tore und sein Freund Eule (Daniel Michel) dafür, dass er wieder läuft – und das Wunder geschieht. Fortan sieht der junge Christ in Benno eine Art göttliche Mission. Er lädt ihn zum Gottesdienst ein, berichtet von seinem Glauben, bemüht sich um eine Freundschaft.
Nach einem Streit in der Jesus-Freaks-Kommune, in der Tore zeitweise untergekommen ist, zieht er bei Benno, Astrid, der 15-jährigen Sanny (Swantje Kohlhof) und dem kleinen Dennis (Til-Niklas Theinert) ein. Er campiert in einem Zelt im Garten, isst mit der Familie – und verliebt sich in die Teeanagerin. Erst nach und nach entdeckt er die Brutalität, mit der Benno in seinem Haus herrscht. Dieser verbietet seiner Freundin Astrid das Ausgehen ohne ihn, vergreift sich an Ziehtochter Sanny und wird zunehmend gewalttätig gegenüber Tore.
„Die Liebe ist nicht totzukriegen“
Selbst als Benno vor Tores Augen die Nachbarskatze ertränkt oder ihn gemeinsam mit Astrid dazu zwingt, ein vergammeltes Hühnchen zu essen, verlässt Tore die Familie nicht. Zum einen aus Sorge um Sanny, zum anderen aus dem tiefen Glauben heraus, dass er an diesem Ort eine Mission zu erfüllen hat. „Die Liebe ist nicht totzukriegen“, hört der Zuschauer ihn beten. Und sieht ihn zugleich im Leid ausharren und körperlich daran zugrunde gehen.
Die während des Drehs erst 30-jährige Regisseurin Katrin Gebbe hat den Film in drei Kapitel unterteilt, die angesichts der Geschichte makaber wirken könnten: Glaube, Liebe, Hoffnung. Diese Komponenten zeigen sich ausschließlich in der Person Tore und seiner Beziehung zu Sanny. So erhöht Gebbe den eigentlich eher seltsam und verloren wirkenden Tore zur Lichtfigur, die ihre persönliche Passion durchleidet, um der Freundin das Schlimmste zu ersparen.
„Wenn sie Schiss kriegen, fangen die Leute immer an zu beten“, wirft Benno ihm entgegen. „Wenn ich nicht glauben könnte, hätte ich gar nichts“, sagt Tore an anderer Stelle und lässt Benno immer wieder durch seine bedingungslosen Ideale auflaufen. Obwohl dieser dem dürren Tore körperlich überlegen ist, ihn immer wieder misshandelt und ihn am Ende sogar zum Anschaffen zwingt, bietet ihm der Christ die Stirn, beflügelt durch reines Gottvertrauen.
Besessen von einer Mission
Doch Gebbe zeigt auch eine andere, dunkle Seite bedingungsloser Gottesliebe: Sie lässt Tore über seine Kräfte hinaus erdulden, was er als Gottes Willen betrachtet. Mehrmals hat er die Chance, sein Elend hinter sich zu lassen. Doch Tore entscheidet sich immer wieder dagegen. Er ist besessen von der Idee, Bennos Hass durch Liebe zu besiegen und bringt den Zuschauer so in eine seltsame Zwickmühle: Soll er den Jesus Freak für seine Kraft bewundern? Oder ihn für sein ewiges Dulden verurteilen?
Gebbe selbst hat gesagt, sie habe der Bösartigkeit Bennos etwas Schönes entgegensetzen wollen und sich deshalb dafür entschieden, Tore als gläubigen Menschen zu zeichnen. Inspiriert wurde sie durch einen wahren Fall solcher Sklaventreiberei in Deutschland, die religiöse Komponente hat sie erfunden. Dennoch ist bemerkenswert, wie exakt sie Lebensgefühl und Lifestyle der Jesus Freaks nachempfindet. Sätze wie: „Ich lass mich nicht mit Alkohol volllaufen, ich füll mich lieber mit dem Heiligen Geist ab“, klingen zwar leicht überzogen, sind aber gerade in der Anfangszeit der Bewegung hier und da gefallen.
Die Regisseurin hat in Zusammenarbeit mit dem Kleinen Fernsehspiel des ZDF ein maßgenaues Meisterwerk geschaffen, das nicht ohne Grund mehrfach ausgezeichnet wurde. Manch einer mag Tores Nichtflucht aus der Familie als unrealistisch empfinden. Wer das tut, sollte sich vor Augen führen, wie viele Menschen, auch in Deutschland, in gewalttätigen Beziehungen ausharren – obwohl sie jederzeit gehen könnten. (pro)
„Tore tanzt“ läuft in der Nacht von Montag auf Dienstag, den 30. Juni, um 00.10 Uhr im ZDF und am Freitag, den 3. Juli, um 22 Uhr bei ZDFkultur. Ab 16 Jahre, 105 Minuten, Deutschland 2013
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