Politiker aller Fraktionen des Deutschen Bundestages haben die Verbrechen an den Armeniern vor 100 Jahren als Völkermord bezeichnet. Gemeinsam mit den Kirchen gedachte auch Bundespräsident Joachim Gauck der Opfer.
Bundespräsident Gauck sprach am Donnerstag erstmals von einem Völkermord an den Armeniern und räumte die Mitschuld der Deutschen ein
„Völkermord ist ein Straftatbestand“, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zum Auftakt der Bundestagsdebatte am Freitag anlässlich des Genozids an den Armerniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren. Die Wahrheit anzuerkennen, sei Grundlage für eine Versöhnung, erklärte Lammert weiter. Damit bezog er sich auf Deutschland, dessen damalige Reichsregierung mit der des Osmanischen Reiches verbunden war und die Verbrechen an den Armeniern duldete. Die Armenier sind das älteste christliche Volk der Welt. Auch die Bundesrepublik müsse seine Mitschuld an den Verbrechen an ihnen einräumen. Lammert würdigte das humanitäre Engagement der Türkei für Flüchtlinge, appellierte aber „an das Bewusstsein auch für die eigene Vergangenheit“. Die Regierung in Ankara sei mitverantwortlich dafür, dass den Opfern und deren Nachkommen Gerechtigkeit widerfahre.
Norbert Röttgen (CDU) sagte, die Bezeichnung Völkermord zu verwenden, sei die einzige Möglichkeit, angemessen über die historischen Geschehnisse zu sprechen. „Heute beenden wir das Verdrängen und Vertuschen“, erklärte er. Parteikollege Christoph Bergner bat um Entschuldigung dafür, dass Deutsche an dem Unrecht beteiligt waren. Der Auseinandersetzung mit dem Thema dürfe die Politik nicht ausweichen. „Deutschland muss zur Versöhnung von Armeniern und Türken beitragen“, forderte er und kritisierte das Vorhaben türkischer Verbände, am Samstag vor dem Brandenburger Tor gegen die Anerkennung des Völkermords zu demonstrieren. Frank Schwabe (SPD) sagte, die Botschaft des Tages sei, dass niemand, der einen Völkermord plane, damit ungeschoren davon komme. Auch er plädierte dafür „Völkermord auch Völkermord zu nennen“.
Anders sieht das Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Dem Spiegel sagte er am Freitag, im Mittelpunkt deutscher Außenpolitik müsse die „Aussöhnung zwischen den betroffenen Völkern“ stehen. Die „bloße Reduktion auf die Frage der Verwendung des Wortes Völkermord“ helfe nicht, „die Sprachlosigkeit zwischen Türken und Armeniern“ zu beenden. Er warnte davor, den Holocaust zu verharmlosen. „Wir müssen in Deutschland aufpassen, dass wir am Ende nicht denen recht geben, die ihre eigene politische Agenda verfolgen und sagen: Der Holocaust hat eigentlich vor 1933 begonnen.“
„Die Bundesregierung schweigt“
In diesen Tagen jährt sich die Verfolgung der Armenier zum hundertsten Mal. Im Auftrag der damaligen osmanischen Regierung hatte am 24. April 1915 deren Vertreibung und Vernichtung begonnen, bei der bis zu 1,5 Millionen Menschen starben. Bis heute lehnt die türkische Regierung es ab, dies als Völkermord zu bezeichnen. Teile der Bundesregierung verzichteten im diplomatischen Umgang bisher ebenfalls auf den Begriff. Das kritisierte die Opposition am Freitag im Bundestag.
Cem Özdemir (Grüne)sagte, gehe es nach der Bundesregierung würde sie den Begriff Völkermord bis heute nicht gebrauchen. „Wir sind es den Opfern schuldig, dass ab heute alles beim Namen genannt wird“, forderte er. Özdemir wünsche sich künftig türkische Schulbücher, in denen an die Opfer erinnert wird. „Wir sprechen als Freunde zu Freunden“, sagte er in Richtung der Türkei.
Ulla Jelpke von der Linken forderte, dass SPD und CDU den Völkermord uneingeschränkt eingestehen. Im Koalitionsvertrag sei dies nicht der Fall. Dies sei der historischen Realität nicht würdig. Deutschlands Rolle beim Genozid nannte sie: „Beihilfe zum Völkermord“. Auch heute gingen Kurden und Armenier im Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat zugrunde. „Die Bundesregierung weiß davon und schweigt, um den Bündnispartner Türkei an seiner Seite zu halten“, sagte Jelpke.
„Debatte nicht auf Begriffe reduzieren“
Bereits am Donnerstag hatten Kirchen verschiedener Konfessionen gemeinsam mit Bundespräsident Joachim Gauck in Berlin des Völkermords gedacht. „Mit unserem heutigen Wissen und vor dem Hintergrund politischer und humanitärer Schrecknisse der vergangenen Jahrzehnte steht uns heute klar vor Augen: Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist“, sagte Gauck laut Redemanuskript im Berliner Dom. Er mahnte allerdings auch, darauf zu achten, „dass sich diese Debatte nicht auf Differenzen über einen Begriff reduziert“. Es gehe vor allem darum, die geplante Vernichtung eines Volkes in ihrer ganzen schrecklichen Wirklichkeit zu erkennen, zu beklagen und zu betrauern. Auch Gauck erinnerte an die unrühmliche Rolle Deutscher: „Es waren deutsche Militärs, die an der Planung und zum Teil auch an der Durchführung der Deportationen beteiligt waren. Hinweise von deutschen Beobachtern und Diplomaten, die im Vorgehen gegen die Armenier den Vernichtungswillen genau erkannten, wurden übergangen und ignoriert. Denn das Deutsche Reich wollte die Beziehungen zum osmanischen Verbündeten nicht gefährden.“
1.100 Menschen besuchten den Gottesdienst, darunter zahlreiche Prominente aus der Politik. „Als Kirchen in Deutschland stehen wir zusammen zu der Verantwortung, das Gedenken an den Völkermord wachzuhalten“, teilten Evangelische und Katholische, Armenische Apostolische Kirche und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen mit, die gemeinsam zum Gedenken eingeladen hatten. (pro)
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