Mit dem Erfolg von Fifty Shades of Grey ist Sado-Maso-Literatur salonfähig geworden. Doch das Problem sitzt noch viel tiefer in einem Land, in dem Kinder mit elf Jahren den ersten Porno sehen. Ticken wir eigentlich noch richtig? Ein Kommentar von Nicolai Franz
Von Nicolai Franz
Foto: pro
Quadratisch, profiliert und in einem stabilen Rahmen: 50 verschiedene Grautöne
Als der Trailer der schlüpfrigen Buchverfilmung Fifty Shades of Grey erschien, kam der amerikanische Comedian Jimmy Fallon auf eine Idee: Er ließ einen Reporter die Passanten fragen, ob sie den Trailer gesehen hätten. Allerdings fragte der Mitarbeiter nicht nach Fifty Shades of Grey, sondern nach allerhand ähnlich klingenden, völlig absurden Titeln, zum Beispiel: „Have you seen the trailer of Fifty Shapes of Grape?“ („Haben Sie den Trailer von Fünfzig Weintraubenformen gesehen?“).
Kein Passant wunderte sich über „Fizzy Snakes Are Great“ („Zischende Schlangen sind toll“), selbst „Cliffy Shaves a Greek“ („Cliffy rasiert einen Griechen“) sorgte nicht für Stirnrunzeln. Die schlichte Reihenfolge der Vokale war den Befragten schon so vertraut, dass sie „Fifty Shades of Grey“ verstanden.
Anleitung zur häuslichen Gewalt
Die enorme Popularität des schlüpfrigen Buches ist deshalb bemerkenswert, weil es keine normale Liebesgeschichte ist, sondern unverblümte Darstellung von Sado-Maso-Praktiken enthält. Lack und Leder, sexuelle Erregung durch Dominanz, Erniedrigung und Unterordnung: „Du gehörst mir“, wie es der Protagonist Christian Grey über seine unterwürfige Partnerin Ana Steele sagt.
Manche Frauenrechtler sehen in Fifty Shades of Grey keine harmlose Romanze, sondern die Anleitung zur häuslichen Gewalt. Das Buch verhelfe, so die Kritiker, einer Spielart von Sexualität zur Popularität, die das Zeug habe, besonders Frauen zu erniedrigen.
Quiz mit Bibel und SM-Literatur
Das Buch veranlasste die beiden christlichen „Sexpertinnen“ Danna Gresh und Juli Slattery, ein Gegenbuch zu schreiben: „Pulling Back the Shades“ („Die Vorhänge zurückziehen“). Die Autorinnen wollen zeigen, dass Gott sich die Intimität zwischen Mann und Frau anders vorgestellt hat als bei Fifty Shades of Grey. Jeder, der den beiden Amerikanerinnen seine Ausgabe zuschickt, bekommt deren Buch zum Tausch. Die Leser sollen erfahren, „warum Erotik die Bedürfnisse von Frauen eher ausnutzt als sie befriedigt“, schreiben Gresh und Slattery auf ihrer Website.
Mag sein, dass diese Formulierung einfach nur unglücklich war. Denn Erotik ist natürlich nichts Negatives, im Gegenteil. Sie beschreibt schlicht die „den geistig-psychischen Bereich einbeziehende sinnliche Liebe“, wie der Duden schreibt, also auch und gerade die Sexualität zwischen Mann und Frau. Wer einmal das Hohelied gelesen hat, wird kaum sagen können, dass die Bibel leibes- oder gar sexfeindlich wäre – im Gegenteil. Darin finden sich Verse wie „Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden“. Der Sender SWR3 bietet gar ein Quiz mit Zitaten an, die Fifty Shades of Grey und der Bibel entnommen sind. Der Nutzer muss die Zitate korrekt zuordnen.
Die Vergleiche sind zwar lustig, aber natürlich auch Quatsch. Im Hohelied geht es um sinnliche gegenseitige Zuneigung, bei Fifty Shades of Grey um die Lust am Leiden und Erleiden. Was übrigens auch für die Schreibe gilt: Das schwache literarische Niveau des SM-Romans setzt beim Leser an sich schon einen gewissen Masochismus voraus.
Dennoch sieht sich die Lack-und-Leder-Geschichte einem Hype ausgesetzt, der befremdlich ist. Die eigentliche Neuigkeit ist nicht, dass es Sadomaso-Literatur gibt. Sondern dass sie so selbstverständlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, dass sich selbst der liberalste Bürger fragen muss: Ticken wir eigentlich noch richtig?
Dabei ist der Erfolg von Fifty Shades of Grey nur konsequent, gemessen an der Entwicklung der vergangenen Jahre, die sich im Unterhaltungsfernsehen durch die Abwesenheit christlicher Werte auszeichnen. Es gibt kaum noch Fernsehfilme oder Serien – auch im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk – in denen die Hauptfigur verheiratet ist. Oder gar glücklich verheiratet. Von Kindern ganz zu schweigen.
Immer dieselbe Rosamunde-Pilcher-Soße
Stattdessen finden gerade deutsche Filmemacher offenbar Gefallen daran, den Zuschauern die immer gleiche Rosamunde-Pilcher-Soße neu zu präsentieren: Frau ist in einer Beziehung, aber unglücklich, Frau verliebt sich in anderen Mann, Mann und Frau werden ein Paar, das Paar gerät in eine Krise, ist am Ende aber wieder glücklich in der neuen Konstellation. Leichte Variationen bestätigen die Regel. Das Fernsehvolk hat sich an das Mantra „Eine Beziehung ist dazu da, um mich glücklich zu machen“ schon so gewöhnt, dass auch Christen es am Sonntagabend auf der Couch noch nicht mal mehr mit einem Achselzucken quittieren.
Doch auch das ist nicht einmal die Spitze des Eisbergs. Es ist lediglich ein sichtbares Symptom einer Gesellschaft, die in den vergangenen Jahren ihren Umgang mit medialer Sexualität entscheidend verändert hat. Der Konsum von Pornografie hat gigantische Ausmaße angenommen, und zwar in Formen, gegen die Fifty Shades of Grey wie Flaschendrehen wirkt. Vor allem hat er den Ruch des Anstößigen weitgehend verloren.
Sexualität wird zum billigen Konsumgut degradiert
Kinder sind im Schnitt elf Jahre alt, wenn sie ihren ersten Porno sehen. Laut der Jahresstatistik des Anbieters Pornhub sind alleine auf deren Seite im vergangenen Jahr 78,9 Milliarden Videos angeschaut worden – das macht elf pro Erdenbewohner. Die Welt wächst mit Pornos auf, wird durch Pornos aufgeklärt, wird von Pornos beeinflusst, findet Pornos normal. Musste man früher noch verschämt den Durchgang zur Erwachsenenvideothek nehmen, machen Hardcore-Pornos in all ihren Spielarten heute über Smartphones im Freundeskreis die Runde.
Jahrzehnte nach der angeblichen Befreiung der Frau durch die sexuelle Revolution sind es Feministen wie Alice Schwarzer, die am stärksten vor den Folgen einer hypersexualisierten Gesellschaft warnen – zu Recht. Frauen werden als verfügbare Ware angepriesen, Sexualität wird von der Krönung der Liebe zum billigen Konsumgut degradiert. Den gesunden, stabilen Rahmen von schenkender Liebe und sinnlicher Sexualität, nämlich die Ehe, müssen wir neu entdecken und wertschätzen. Mit allen ihren Höhen und Tiefen. Nach verlässlichen Beziehungen sehnen sich die Menschen seit Jahrhunderten – auch heute noch, wie aktuelle Jugendstudien belegen.
Deswegen ist es nur scheinbar ein Widerspruch, dass folgendes Wort in den Kommentarfeldern bei Pornhub im vergangenen Jahr am meisten geschrieben wurde:
„Love“. (pro)
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