Die Haltung der Kirchenoberen in Ost und West zur Zweistaatlichkeit Deutschlands zwischen 1961 und 1989 wirft im Rückblick Fragen auf. Zusammen mit dem Pfarrer und idea-Leiter Helmut Matthies hat sich pro auf Spurensuche begeben.
Von PRO
Foto: pro
Der Leiter der Evangelischen Nachrichtenagentur idea, Helmut Matthies, hat für die Wiedervereinigung gebetet
Zu DDR-Zeiten hatten viele Kirchengemeinden in Westdeutschland enge Kontakte zu Partnerkirchen und Gemeinden im Ostteil Deutschlands. „Schätzungsweise rund 4,5 Milliarden Mark flossen von West nach Ost und finanzierten etwa 40 bis 60 Prozent der Haushalte der evangelischen Landeskirchen“, schätzt Helmut Matthies, Pfarrer und Leiter der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. Der finanzielle Transfer sei wohl immer aus christlicher Motivation heraus erfolgt. Ihm sei zu verdanken, dass der Wunsch nach Wiedervereinigung durch die vielfältigen Kontakte und den Austausch erhalten blieb.
Was die Landeskirchen hier taten, geschah nicht aus nationalen Gründen. Die Wiedervereinigung war kein Thema mehr. So sagte etwa der führende Kirchentagsredner und Theologe Helmut Gollwitzer 1985: „Wir sollten endlich aufhören, die deutsche Teilung zu beklagen, wir sollten uns damit abfinden.“
„Der Letzte, der noch unbefangen von Wiedervereinigung sprach, war der erste Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nach Kriegsende, der Berliner Bischof Otto Dibelius“, erinnert sich Matthies. In seinen „Reden an eine gespaltene Stadt“ sagte Dibelius: „Es geht jetzt nach dem Mauerbau durch ganz Deutschland die Rede: Mit der Wiedervereinigung ist es nun aus – die kommt nie! Der das sagt, ist kein Christ, weil er seinem Gott nichts mehr zutraut (…) Aber wer die Wiedervereinigung jeden Tag erbittet, um der anderen Menschen willen, darum, dass zusammengehören muss, was Gott zusammen geschaffen hat, und dass es nicht Gottes Wille sein kann, dass so viel Tränen um diese infame Sache vergossen werden, dass durch Deutschland ein Stacheldraht gezogen ist, der wird es anders erleben.“
Kirchen in Ost und West trennen sich
1969 trennten sich die acht evangelischen Landeskirchen in der DDR von den 17 EKD-Gliedkirchen ab und gründeten einen eigenen Kirchenbund. Wie in beiden protestantischen Volkskirchen über die Wiedervereinigung in den Teilstaaten gedacht wurde, offenbart eine gemeinsame Erklärung von EKD und DDR-Kirchenbund aus dem Jahr 1985. Darin heißt es: „Wir bitten alle Menschen in den beiden deutschen Staaten, (…) nicht eine Wiederherstellung früherer Verhältnisse zu verlangen, die nicht zu haben sind.“ Nur ein Synodaler widersprach der Verlautbarung: Superintendent Thomas Küttler aus Plauen. Ihm wurde dann vorgeworfen, mit seiner Haltung den Frieden in Europa zu gefährden.
Noch im August 1989, als bereits tausende DDR-Bürger über Ungarn in den Westen flohen, bezeichneten Kirchenvertreter, unter ihnen der stellvertretende Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Manfred Stolpe, „eine Wiedervereinigung als objektiv friedensgefährdend“.
EKD-Synode 1989: Wiedervereinigung kein Thema
Am Tag des Mauerfalls, am 9. November 1989, nahm Helmut Matthies als Chefredakteur der Evangelischen Nachrichtenagentur idea an der EKD-Synode in Bad Krozingen teil. In Sachen Wiedervereinigung war die EKD selbst unmittelbar vor der Maueröffnung nicht auf der Höhe der Zeit. Matthies berichtet: „Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Bischof Martin Kruse rügte mich öffentlich wegen eines wenige Wochen vorher erschienen Artikels unter dem Titel ‚Wiedervereinigung – was sonst?‘“ Kruse habe ihn dahingehend bedrängt, dass er „doch endlich aufhören soll, von der Wiedervereinigung zu schreiben“. Sie käme nicht, sei völlig unrealistisch. „Keiner meiner Kollegen verteidigte mich damals“, erklärt Matthies gegenüber pro. Die Synode beschäftigte sich damals vorwiegend mit Südafrika und dem Feminismus. Unter anderem ging es darum, dass der Frauenanteil in allen Gremien auf 40 Prozent erhöht werden sollte. „Die deutsche Frage spielte so gut wie überhaupt keine Rolle“, erinnert sich der Theologe.
„Dann kam die Nachricht über die Öffnung der Mauer im Fernsehen im Presseraum. Die es sahen, haben gejubelt“, sagt Matthies. An dem Abend sei dann noch sehr viel Alkohol getrunken worden. „Es war kein schöner Abend von den äußeren Dingen, aber mein Herz jubelte und als ich dann zu meinem Hotel ging, summte vor mir jemand die Nationalhymne. Da dachte ich: ‚Einer hat es begriffen!’ Ich erkannte dann in dem Mann den Präsidenten des Kirchenamtes der EKD, Otto von Campenhausen. Wir sagten kein Wort. Wir umarmten uns. Damit war alles gesagt.“
„Halleluja“ weicht der Ernüchterung
Am nächsten Tag rief Matthies in der idea-Redaktion in Wetzlar an und bestimmte, dass alle Redakteure nach Berlin fliegen sollten, um über dieses Ereignis zu berichten und es mitzuerleben. „Wir haben eine Sonderausgabe gemacht unter dem Titel ‚Großer Gott wir loben Dich!‘“ Mit 10 gemieteten Trabbies wurde die „Jubelausgabe in der DDR verteilt.“ An seinen Freund Wilfried Gotter, der in Crimmitschau (in der Nähe von Chemnitz) lebte und als Christ in den Jahren vor der friedlichen Revolution illegal idea-Spektrum verbreitete, schrieb Matthies in der Nacht der Maueröffnung ein Telegramm. Der Inhalt bestand aus nur einem Wort: „Halleluja!“.
Heute ist Matthies traurig darüber, dass am 9. November und am Tag der Deutschen Einheit, dem 3. Oktober, nicht einmal mehr „Gott gedankt wird, dass wir nach allem Schrecklichen, was war im Dritten Reich und danach, diese wunderbare Chance bekommen haben, in ganz Deutschland Freiheit zu haben.“ Oft werde gesagt, dass in Deutschland seit 1945 Frieden herrsche. Das könne man so jedoch nicht stehen lassen, denn im Osten saßen bis zu 280.000 Menschen in Gefängnissen, nur weil sie eine andere Meinung vertraten als ihre Regierung. „Da kann man nicht von Frieden sprechen. Es war eine schlimme Diktatur. Wir hatten nach der Maueröffnung zumindest schon einmal die Hoffnung, dass wir in ganz Deutschland Frieden bekommen. Die Lage war ja so, dass noch 450.000 Rotarmisten in der DDR waren. Ein Befehl – und es wäre mit der Freude vom 9. November zu Ende gewesen“, sagt der idea-Leiter.
Das Ganze sei völlig unnatürlich verlaufen, wenn man bedenke, dass es keinerlei Anordnung gegeben habe, die Grenzen sofort zu öffnen. „Günther Schabowski, der damalige Pressesprecher der DDR-Regierung, wurde, wenn ich mich richtig erinnere, von einem italienischen Journalisten gefragt, ab wann denn eine günstigere Reiseregelung da ist, dass man also ohne große Visaerteilung in den Westen kann. Dann sieht man Schabowski in der berühmt gewordenen Fernsehsendung, wie er in seinen Papieren herum kramt und nichts findet und dann einfach spontan sagte, aus einer Eingebung heraus, aber völlig gegen alles, was er hätte sagen dürfen: ‚Ab sofort.‘“ Matthies vertritt die Auffassung, dass dieser 9. November kein historischer Tag geworden wäre, hätte Schabowski nicht vor laufender Kamera seine Kompetenzen überschritten. „Aber weil er dieses ‚Ab sofort‘ gesagt hatte, setzten sich Hunderttausende in Bewegung, die dann noch in der Nacht von Ost nach West gingen. Es war dieser Satz.“
Technik half beim Mauerfall
Im Interview weist Matthies auf die wichtige Funktion der Medien im Zusammenhang mit dem Mauerfall hin. „Wenn das eine Pressekonferenz gewesen wäre ohne Fernsehen und Radio, dann hätte die DDR-Regierung die Korrespondenten natürlich noch einmal angesprochen und gesagt: ‚Das war ein Missverständnis, eine Fehlmeldung von Schabowski. Er hätte das nicht sagen dürfen. Selbstverständlich wird die Grenze nicht sofort geöffnet.‘ Dadurch dass es eine Live-Übertragung im Fernsehen war, war der Satz nicht mehr zurückzuholen und alles lief, wie es eben gelaufen ist. Wunderbar.“ (pro)
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