Die Medien haben Verbrechern keine Bühne zu bieten. Das lernen Journalisten schon in der Ausbildung. Dennoch lassen Reporter sich von radikalen Islamisten zu ihrem Werkzeug machen. Eine Analyse von Anna Lutz
Die Medien haben Verbrechern keine Bühne zu bieten – und tun es doch
Seit dem 16. August 1988 ist der Journalismus in Deutschland ein anderer. Es ist der Tag, an dem Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner eine Deutsche Bank-Filiale im nordrhein-westfälischen Gladbeck überfallen. Sie nehmen Geiseln, flüchten mit ihnen quer durch die Republik und sind am Ende für den Tod dreier Menschen verantwortlich.
Doch sie sind nicht die einzigen, die sich in jenen drei Tagen zwischen dem Überfall und ihrer Gefangennahme durch die Polizei schuldig machen. Schon als die beiden Täter noch mit den Behörden über ein erstes Fluchtfahrzeug verhandeln, interviewt der erste Radiosender sie. Kamerateams und Fotojournalisten drängen sich später um ihr Auto. Degowski und Rösner sprechen in Mikrofone und Aufnahmegeräte als wären sie Fernsehstars. Im Verlauf der Entführung greifen Journalisten aktiv ins Geschehen ein, begleiten die Geiselnehmer, verhandeln mit ihnen und versuchen, Geiseln zu befreien – alles vor den Augen der Öffentlichkeit, für die sie live berichten.
Kein Werkzeug von Verbrechern
Die Rolle der Medien wird in den darauf folgenden Tagen und Wochen heiß diskutiert. Letztendlich hat diese Debatte dazu geführt, dass der Pressekodex heute solchen Fällen vorzubeugen versucht. In Richtlinie 11.2 heißt es seit damals: „Bei der Berichterstattung über Gewalttaten, auch angedrohte, wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab. Sie berichtet über diese Vorgänge unabhängig und authentisch, lässt sich aber dabei nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen. Sie unternimmt keine eigenmächtigen Vermittlungsversuche zwischen Verbrechern und Polizei. Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens darf es nicht geben.“ Eine der Lehren aus diesen Tagen in Gladbeck ist so simpel wie einleuchtend: Journalisten sollen es so gut es geht vermeiden, Verbrechern eine Bühne zu bieten. Denn dadurch beeinflussen sie das Tatgeschehen – und gefährden die Opfer zusätzlich.
Wie schwierig diese einfache Weisheit zuweilen zu befolgen ist, zeigt dieser Tage exemplarisch ein bei Spiegel Online erschienenes Interview mit einem Rekrutierer der Terrororganisation „Islamischer Staat“. IS, das sind jene Verbrecher, die derzeit Schlagzeilen machen, weil sie Christen und Andersgläubige massakrieren, Journalisten köpfen und sich anschicken, die türkische Grenze zu stürmen. Im Interview darf ein Mann namens Abu Sattar seine kruden Thesen verbreiten. Wer gegen die Scharia sei, handle wider dem Islam. Eigentliche böse seien nicht die Islamisten, sondern der Westen. Und Demokratie sei ohnehin problematisch. Irre Aussagen radikaler Islamisten eben, man kennt das mittlerweile.
Eine Bühne für Terroristen
Seit Gladbeck sind 26 Jahre vergangen und doch ist der Sprung zwischen dem journalistischen Umgang mit den Geschehnissen in Nordrhein-Westfalen und jenen an der türkischen Grenze nicht so groß wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn ohne es zu wollen, verschaffen die Medien den Verbrechern des IS die größtmögliche Bühne für die Verbreitung ihrer kruden Ideen. Mit dem Anspruch, aufklären zu wollen, ist das nicht zu rechtfertigen. Denn wen überrascht es schon noch, wenn ein Islamist die Demokratie ablehnt? Oder wenn er dem Westen droht?
Keine Interviews mit Tätern
„Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens darf es nicht geben“, heißt es im Pressekodex. Nun kann man kontern, dass hier keineswegs zum Zeitpunkt des Tatgeschehens interviewt wird. Aber stimmt das? Tatsächlich brauchen radikale Islamisten nichts mehr als die Öffentlichkeit. Denn ihr eigentliches Machtinstrument sind nicht Messer, Macheten und Kalaschnikows. Sondern die Angst. Davor, dass morgen auch in Deutschland ein Verrückter auf Politiker des Bundestages schießen könnte wie jüngst in Kanada. Davor, dass Brandsätze in der U-Bahn detonieren oder dass Flugzeuge in Hochhäuser fliegen. Die Medien lassen sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen, mahnt der Pressekodex. Doch genau das geschieht.
Freilich müssen Journalisten berichten – über 9/11, über Ottawa, über geköpfte Journalisten. Erkenntnisgewinn ist das täglich Brot des Reporters, mehr noch, es ist Teil seiner Aufgabenbeschreibung. Doch bei all dem müssen sich Medienmacher fragen, welchen Erkenntnisgewinn Interviews mit Verbrechern des IS bringen, deren Ideen doch längst bekannt und hinreichend analysiert sind. Denn Informationsinteresse ist etwas anderes als Klickzahlen und Auflage. Interviews mit Verbrechern sind Grenzüberschreitungen, auch und gerade dann, wenn sie gelesen werden. Im Jahr 1988 ebenso wie 2014. (pro)
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