Jedes Kind ist ein Wunder und Perfektion gibt es nicht: pro hat mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter über große Dankbarkeit, kleine Unzulänglichkeiten und himmlische Musik gesprochen.
Von PRO
Foto: Harald Hoffmann/Deutsche Grammophon
Anne-Sophie Mutter ist als Solo-Geigerin in den großen Konzerthallen dieser Welt gefragt. Privat hört sie nur Jazz
pro: Wolfgang Amadeus Mozart hat in einem Brief an seinen Vater einmal über Gott geschrieben: „Ich erkenne seine Allmacht, ich fürchte seinen Zorn. Aber ich erkenne auch seine Liebe, sein Mitleiden und seine Barmherzigkeit gegen seine Geschöpfe. Er wird seine Diener niemals verlassen.“ Wie beschreiben Sie Gott?
Anne-Sophie Mutter: Gott ist für mich der Schöpfer aller schönen Dinge, aber natürlich auch alles Abgründigen. Dieser ständige Dialog zwischen Licht und Dunkel ist die große Herausforderung unseres Lebens.
Sie haben einmal gesagt, der Glaube sei für Sie Motivation gewesen, Musikerin zu werden. Wie meinen Sie das?
Ich habe Musik immer als etwas Kräftigendes, Reinigendes, Erhebendes empfunden. Es war der große Dirigent Ferenc Fricsay, der gesagt haben soll: Wer Mozart gehört hat, der glaubt an Gott. Ich glaube nicht, dass Musik Menschen besser macht. Aber ich habe sehr früh empfunden, wie tief Musik Menschen bewegt und Dinge in der Gesellschaft verändern kann. Werke wie Beethovens Neunte haben mich schon als Kind enorm beeindruckt. Auch die Tatsache, dass der jüdische Geiger Yehudi Menuhin nach dem Zweiten Weltkrieg der erste war, der nach Deutschland zurückkam, empfand ich als große Geste. Und das verbunden mit der Musik, eben der Botschaft der Liebe, der Botschaft des Verzeihens, hat mich tief geprägt. Und ich wollte auch ein Musiker werden, der Ähnliches schafft.
Ist Musik für Sie Beruf oder Berufung?
Es war nie Beruf, es war sozusagen unausweichlich. Es war mein Lebenswunsch, mit Musik nicht nur mein Leben, sondern auch das Leben anderer sinnstiftend beispielsweise durch Benefizkonzerte zu berühren.
Andere haben Sie schon früh ein Wunderkind genannt. Allerdings mögen Sie den Begriff überhaupt nicht. Wieso?
Für mich ist jedes Kind ein Wunder. Ob es jetzt Geige spielt oder nicht, das ist total irrelevant. Jedes Geschöpf entsteht aus einer Zelle, ist einfach ein Wunder in seiner ganzen Perfektion. Mag die Begabung noch so unterschiedlich aussehen.
Glauben Sie jenseits davon an Wunder?
Ja, das ist ein Zwiespalt. Ich glaube an Wunder und doch meint mein Verstand, es gäbe sie nicht. So dass ich mich in diesem ewigen, wunderbaren Spannungsfeld bewege zwischen Glauben und Hoffen und manchmal in der Verzweiflung, wohl zu wissen, dass es sie nicht geben kann. Und doch glaube und hoffe ich.
Wie erklären Sie das anderen?
Für mich ist es wahnsinnig schwer, über meinen Glauben zu sprechen, weil – und da diskutiere ich manchmal sehr heftig mit Freunden – ich es für etwas sehr Privates halte und weil der Glaube leider sehr schnell etwas Abgrenzendes an sich hat. Und das möchte ich natürlich nicht mit meinen christlichen Gedanken oder meiner Liebe zu Gott ausdrücken und bewirken. Für mich geht es in der Botschaft des Glaubens immer darum, dass ich für das Gute kämpfe, dass ich für den anderen offen bin, und dass ich den anderen in seiner Andersartigkeit, in seinem Glaubensbekenntnis, vielleicht auch eines anderen Glaubens, annehme, so wie er ist. Ich bin evangelisch und daher vielleicht etwas weniger dogmatisch aufgestellt, zum Beispiel in meiner Liebe zur jüdischen Kultur.
Sie werden oft als perfekte Geigerin bezeichnet. Gibt es Perfektion?
Ha, das ist ein einziges großes Missverständnis. Ich habe, glaube ich, mal gesagt, Perfektion erreicht haben zu wollen ist ein Mangel an Fantasie. Außer in der Natur. Ich meine, wenn ich eine Rose betrachte oder einen Baum, dann ist das natürlich die absolute Perfektion. Aber vielleicht könnte ich, wenn ich Gott wäre, da noch etwas sehen, was verbesserungsfähig wäre. Nun, was meine eigene apostrophierte Perfektion angeht, so gibt es sie selbstverständlich nicht. Also nicht als Musiker, schon gar nicht als Mensch. Ich bemühe mich natürlich immer, nicht die allerdümmsten Entscheidungen zu fällen.
Wie selbstkritisch sind Sie?
Wer Kinder hat, wird ständig hinterfragt und in Frage gestellt. Ich finde, es ist ein irrsinnig spannender Prozess und man lernt sehr viel über sich. Und man lernt Demut, weil das, was man tut, ja immer ein Entwicklungsprozess ist, auch als Eltern, als Mutter. Es ist eine Aufgabe, in die ein Mensch geworfen wird, es gibt dazu ja keine Ausbildung. Das arme Kind ist das Modell, an dem man sich versucht. Das ist sehr, sehr schwierig. Je länger ich Mutter bin, umso mehr hoffe ich auf das Verständnis meiner Kinder. Man kann es nur so gut machen, wie der Intellekt und das Gefühl einen anleiten. Aber da habe ich genau wie beim Geigespielen große Defizite.
Sprechen Sie mit Ihren zwei Kindern über den Glauben?
Ja. Meine Kinder haben ihren Vater sehr früh durch Krebs verloren. Das ist natürlich ein Thema, das zu unterschiedlichen Auswirkungen in Glaubensfragen geführt hat und immer wieder führen wird. Kein Mensch, vielleicht nicht einmal mein Taufpfarrer, ist von Fragen und Zweifeln unberührt. Als mein Taufpfarrer meinen Mann beerdigt hat, hat selbst er bei der Predigt bitterlich geweint und das hat mich sehr beeindruckt. Weil ich leider oft auch Beerdigungen erlebt habe, bei denen nur irgendein Sermon heruntergebetet wurde und bei denen man in der Verherrlichung des Glaubens Schmerz und Trauer gar nicht zu zulässt. Man sieht sich ja wieder, es gibt ja das ewige Leben. Aber das ist nicht die Frage in dem Moment. Man muss erst einmal mit diesem schrecklichen Verlust fertig werden. Und dass auch mein Pfarrer, der doch alles zu wissen scheint in Glaubensfragen, diesen Verlust in diesem Moment nicht verschmerzen konnte, das war einer der großen Momente in meiner Beziehung zu Gott und zu meinem Glauben.
Damals waren Sie eine junge Mutter und beruflich extrem eingespannt. Was hat Ihnen in der Situation geholfen?
Ich glaube, dass im Leben das Gottesgeschenk, zwei Kinder zu haben, etwas ist, woran man sich freuen kann. Ich hatte großes Glück. Ich weiß nicht, was in dieser Situation passiert wäre mit mir und meinem Glauben, wenn ich meine Kinder nicht gehabt hätte. Durch diese Gottesgeschenke konnte ich immer an eine ewig währende Liebe, nicht nur mit meinem verstorbenen Mann, sondern zu Gott und zu diesem „Aufbewahrt-Sein“, glauben.
Sie haben einmal gesagt, dass Kinder der einzige Grund zum Leben seien. Eine steile These …
Man kann ganz verschiedenen Lebensmodellen einen Sinn geben – mit oder ohne Kind. Für mich persönlich sind meine Kinder – das liegt sicher an der Abwesenheit des Vaters – ein immens wichtiger Lebensinhalt. Ich finde es sehr wichtig, nicht für sich selbst zu leben, sondern in einer Aufgabe. Die kann auch ehrenamtlich sein. Aber dass man sich in seiner Ausrichtung des Lebens weg bewegt vom leeren Konsum hin zum anderen. Ich denke, dass ich selbst erst ein einigermaßen brauchbarer Mensch wurde, als meine Kinder geboren waren. Weil ich da plötzlich, schlagartig, aus meiner Existenz als Perfektion suchender Musiker herauskatapultiert wurde in eine Welt, in der ich als Mensch immens gefordert war. Und in der ich selbst die Welt für mich auch noch einmal völlig neu entdeckt habe, sozusagen mit den Augen des Kindes. Eine Begabung kann ja auch dazu führen, dass man sich um diese Begabung dreht, mag das Bestreben auch noch so edel sein. Man muss die Begabung weiter pflegen, aber doch in Relation setzen zu der Wichtigkeit anderen Lebens.
Ihre Begabung ist sehr zeitintensiv. Wie viele Stunden proben Sie?
Seit ich Mutter bin, hängt das sehr von anderen Bedürfnissen ab. Aber ich war jetzt Gott sei Dank nie jemand, der exzessiv sechs bis acht Stunden geübt hat. Dafür bin ich sehr wahrscheinlich von Grund auf zu faul und auf der anderen Seite auch in der Lage, schwierige Dinge in relativ kurzem Zeitraum in den Griff zu bekommen.
Sie haben sich schon zu ihrem 5. Geburtstag Geigenunterricht gewünscht. Warum?
Es gab da eine Aufnahme von Menuhin – Beethoven, Menuhin und Furtwängler. Diese Aufnahme haben sich meine Eltern zur Verlobung geschenkt. Und die lief bei uns, bis sie auseinander brach. Ich habe sie zusammen mit meinen Brüdern immer gehört und so kam es, dass ich mit fünf Jahren Geige spielen wollte. Dabei bin ich geblieben. Für mich war das ein Coup de foudre (Anm. d. Red.: Liebe auf den ersten Blick).
Cello oder Klavier kamen für Sie nie in Frage?
Ich liebe das Klavier und ich bin leidenschaftlicher Bewunderer einiger großer Komponisten. Aber für mich selbst ist diese haptische monogame Beziehung zur Geige etwas, worin ich künstlerisch völlig aufgehe.
Sind die ersten Schritte Ihrer Karriere je für Sie anstrengend gewesen? Kam nie der Gedanke, etwas anderes zu machen?
Vermutlich ist Geige spielen für mich das einzige, worin ich, wenn ich mich anstrenge, gut sein kann, und das habe ich klugerweise früh erkannt. Und wenn man etwas wirklich leidenschaftlich liebt, dann gibt es überhaupt keine Frustration. Als meine Kinder klein waren und ich mir den Wecker morgens um vier stellte, weil zwischen vier und sieben die einzigen drei Stunden waren, von denen ich ausgehen konnte, dass sie mir gehörten, da war ich schon mal nicht so begeistert. Aber wenn man den Fortschritt sieht … ich finde, es ist tatsächlich so, dass Trauben, die am höchsten hängen, am Schluss immer die süßesten sind. Ich war immer jemand, der sich gerne herausfordert. Am Ende des Tages beiße ich mich immer durch. Es ist so ein tolles Gefühl, etwas gelernt und sich selbst überwunden zu haben. Und wenn man feststellt, doch nicht ganz so beschränkt zu sein, wie am Anfang befürchtet.
Was war denn Ihre größte Herausforderung?
Künstlerisch betrachtet ist das eigentlich jede Uraufführung. Zeitgenössische Musik ist immer eine besondere Herausforderung. Nimmt man Mozart und möchte alle Spielvariationen ad absurdum führen, weil man immer etwas Neues darin entdecken will, ist das ebenfalls eine große Herausforderung. Eigentlich ist es jedes Konzert, denn ich muss erstmal meine eigene Tagesform in den Griff kriegen, und die ist ja nicht immer zwangsläufig 100.000 Prozent wunschgemäß. Dann heißt es, die hohen Anforderungen, die ich an mich selbst stelle, erst einmal zu erfüllen. Und sollte ich denen nahekommen, rückt natürlich automatisch die Latte höher. So wird es immer anstrengender.
Sie sind viel unterwegs. Gegen Flugangst haben Sie einen Trick, Sie beten. Was beten Sie und wo, wenn nicht gerade im Flugzeug?
Ich habe mir über die Jahre angewöhnt, dass ich nicht nur bete, wenn ich Angst habe oder wenn ich um irgendetwas bitte, sondern dass ich gerade dann bete, wenn etwas Wunderbares in meinem Leben geschehen ist. Ich halte das für sehr, sehr wichtig. Es ist auch eine Frage der geistigen Hygiene, dass man Gott nicht benutzt als Wunsch- und Heilsbringer, sondern es ist eine Beziehung, die viele Stationen durchmacht. Dank sagen ist sowieso etwas sehr Schönes.
Musik ist auch etwas sehr Privates. Macht es Ihnen Spaß, dies immer mit einer großen Öffentlichkeit zu teilen?
Naja, je nachdem wie viel gerade gehustet wird, stelle ich mir die Frage auch ein, zweimal im Jahr. Dann ist es natürlich schwer, sich auf so intime Moment der Musik einzulassen. Aber Scherz beiseite: Musik macht nur Sinn im Miteinander. Deshalb versuche ich seit Jahren auch immer wieder auf kulturpolitischem Niveau darauf hinzuweisen, dass Kinder früh an Musik herangeführt werden sollen, weil es das Miteinander fördert. Auch diese ganzen unterschiedlichen kulturellen Wurzeln werden im Lied so leicht und spielerisch übermittelt wie nichts sonst. Musik ist nun einmal die einzige Sprache, in der wir uns alle verstehen können, ungeachtet der religiösen und kulturellen Hintergründe.
Nach der Bibel muss es im Himmel sehr musikalisch zugehen. Welche Musik ist das?
Das kann zum Beispiel In tempus praesens von Sofia Gubaidulina sein. Das ist ein Konzert, das ich 2007 uraufgeführt habe, und, nun, es ist sehr modern. Gubaidulina war im wahrsten Sinne des Wortes in der Sowjetunion eingesperrt. Sie war eine Komponistin, die nicht aufgeführt werden durfte, denn sie hat sich nicht zur Sprecherin des Systems gemacht. Ich habe sie gefragt, wie sie diese Jahre in künstlerischer und menschlicher Isolation überstanden hat. Sie hat gesagt, sie hat immer nach oben gesehen. Und damit meinte sie nicht ein Fresko an der Decke. In ihrer Musik finde ich die Überwindung des eigenen Schmerzes und die tiefe Emotionalität und dieses Licht, das die Menschen tief berührt, weil wir am Ende des Tages doch immer hoffen, dass es gut wird und dass alles Leiden einen Sinn findet, vielleicht im Wiedersehen im Jenseits.
Welche Musik hören Sie privat?
Ich höre eigentlich nur Jazz. Jazz ist für mich Komposition im Moment. Es ist etwas immer Frisches, nichts, was sich in der Tradition verfestigt, sondern etwas, das einfach in der individuellen Interpretation neu entsteht. Es ist ein musikalischer Gedanke, auf den sich aufbauend immer neue musikalische Gedanken hinzufügen. Vielleicht bin ich vom Jazz so fasziniert, weil ich selber nicht improvisieren kann und ein miserabler Komponist bin und diese Komponente des wirklich Kreativen bei mir nur minimalst vorhanden ist.
Wenn man sich Ihre Karriere anschaut, kommt darin viel Mozart vor. Haben Sie auch einen Zugang zu seiner sakralen Musik?
Auch. Wobei ich sagen muss, für mich ist Bach der absolute Meister der sakralen Musik. Wenn ich Bachs Choräle höre, die unheimlich komplex sind, sind sie für mich wie Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brechen und Hoffnung geben. Bachs Musik, am Morgen gespielt, ist eine wunderbare seelische Reinigung. Ich habe dafür keine Erklärung. Aber wenn ich an Bachs sakrale Musik denke, da reißt für mich immer wieder ein Fenster zu Gott auf.
Haben Sie ein Lieblingskonzert?
Nein. Es gibt natürlich Werke, die mir leichter von der Hand gehen. Aber das sind nicht Werke, zu denen ich unbedingt die stärkste Beziehung pflege. Sehr viel an zeitgenössischer Musik arbeite ich mir auch schön. Ich finde Dinge gut, die meine Kinder oft haaresträubend finden. Um es kurz zu machen: Ich habe kein Lieblingswerk, aber es gibt Stücke, die ich nicht mag. Aber die führe ich nicht auf. Den Luxus erlaube ich mir.
Wenn Sie Sendungen wie „The Voice Kids“ sehen, …
… ja doch, wenn ich mich auf dem Laufband quäle, …
… und teilweise Achtjährige auf einer großen Bühne stehen und von einer Jury bewertet werden, wie finden Sie das?
Ich finde zwölf auch schon sehr jung. Und Popmusik setzt sich ja mit anderen Inhalten auseinander als klassische Musik. Die Frage ist natürlich die nach dem Text, die ich mir auch als Erwachsener stellen muss. Wie stehe ich zu dem Text in diesem Song? Der Künstler mag ja noch so cool sein und der Beat noch so heiß, aber kann ich mit dem Text leben? Ich finde es sehr bedenklich, dass wir in einer Zeit leben, in der der Text untergeordnet zu sein scheint, in der Worte bedeutungslos anmuten. Sie sind es aber nicht, weil sie Wertung sind über Menschen. Was versteht ein Achtjähriger von einem Song-Text? Leider, oder Gott sei Dank muss man schon fast sagen, wenig. Da werden Worte nachgeplappert, die teilweise menschenverachtend sind. So werden Werte nebenher mitgegeben, die eben wertlos sind. Deshalb finde ich es besonders fragwürdig, dass man kleinen Kindern diesen schalen Weg zum Star-sein schon so wahnsinnig früh geradezu ans Herz legt. Ich finde das Singen in einem Chor zusammen mit anderen sehr viel natürlicher als diesen Wunsch, ja das Trugbild, berühmt und reich zu werden. Weder die Berühmtheit noch der Reichtum haben je einen Menschen glücklich gemacht.
Frau Mutter, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Stefanie Ramsperger. (pro)
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