„Wir haben gedacht, wir sterben“

Am 7. April jährte sich der Beginn des Völkermords in Ruanda zum 20. Mal. Denise Uwimana Reinhardt hat den Genozid überlebt und inmitten des Mordens ihren dritten Sohn zur Welt gebracht. Im Interview erzählt sie, wie es den Menschen in ihrem Land heute geht und warum sie keinen Hass auf die Mörder hat.
Von PRO
Denise Uwimana Reinhardt hat den Völkermord in Ruanda überlebt. Sie ist verheiratet mit Wolfgang Reinhardt, Ruanda-Beauftragter des Missionswerks Frohe Botschaft

Innerhalb von 100 Tagen kamen 1994 in Ruanda rund eine Million Menschen um – vor allem Angehörige der Volksgruppe der Tutsi, sowie moderate Hutu, die sich nicht an dem Morden beteiligten. Die Täter waren nicht nur Milizen und Militärs, sondern auch Nachbarn, Arbeitskollegen, Mitglieder der Gemeinde. Denise Uwimana Reinhardt stand auf der Todesliste der Hutu-Milizen. Mehrmals wurde sie wie durch Wunder verschont. Inmitten der Gewalt brachte sie ihren dritten Sohn zur Welt. Sie und ihre Kinder überlebten. Ihren damaligen Mann und einen Großteil der Verwandtschaft hat sie verloren. Während des Genozids stritt sie mit Gott, warum er zulässt, dass die Tutsi „wie Fliegen“ getötet werden. Später erlebte sie, dass Gott ihr die Kraft gab, zu vergeben. Ihre Erlebnisse hat sie im vergangenen Jahr im Buch „Mit Gott durch die Hölle des ruandischen Völkermords“ festgehalten. Denise Uwimana Reinhardt kümmert sich mit der christlichen Gemeinschaft Iriba Shalom („Quelle des Friedens und Wohlseins“) um Witwen und Waisen des Völkermords. Sie ist heute verheiratet mit Wolfgang Reinhardt. Er ist Ruanda-Beauftragter des Missionswerks Frohe Botschaft und engagiert sich seit 17 Jahren für die Aufarbeitung des Völkermords und für Hilfe für die Überlebenden. Gemeinsam lebt das Ehepaar mit den drei Söhnen von Denise und ihrem ermordeten Ehemann in Kassel. pro hat mit den beiden darüber gesprochen, wie das Land nach 20 Jahren mit dem kollektiven Trauma umgeht.

pro: Denise, Sie sind zum Gedenktag des Völkermords in Ruanda. Was haben Sie vor?

Denise U. Reinhardt: In Ruanda treffen ich mich mit anderen Überlebenden des Völkermords. Wir wollen uns gegenseitig trösten und stärken. Es ist zwar 20 Jahre her, aber für uns Überlebende ist es, als wäre es gestern passiert. Die Erinnerung ist immer im Kopf. Wir wollen aber auch Gott danken. Denn damals haben wir gedacht, wir würden sterben. Aber wir leben.

Was empfinden Sie, wenn Sie Ihr Heimatland besuchen?

Auf der einen Seite habe ich ein gutes Gefühl: Ich sehe, dass sich vieles verbessert hat. Die Menschen leben zusammen in Frieden. Wenn ich da bin, muss ich keine Angst mehr haben, getötet zu werden. Es ist auch schön, wenn ich Grüße und Geschenke aus Deutschland von Patenfamilien überbringen kann. Das ist für die Menschen dort sehr ermutigend.
Andererseits bin ich traurig, wenn ich die vielen Überlebenden treffe, die große Probleme haben – Witwen und Waisen, viele sind sehr arm und haben wenig zu Essen, viele haben sich mit HIV infiziert. Sie fragen: „Warum bin ich krank? Warum habe ich meine Eltern verloren? Ich bin unschuldig!“ Das macht mich traurig.

Wie geht es Ihnen selbst mit den Erinnerungen?

Sie sind natürlich immer da, auch weil ich in Vorträgen darüber spreche, was ich erlebt habe. Aber das hilft mir, um es zu verarbeiten. Wenn ich die Geschichten von anderen Überlebenden und von ihren Problemen höre, leide ich selbst mit. Manchmal träume ich auch davon, aber das ist selten.

Sie haben Ihren jüngsten Sohn inmitten des Mordens zur Welt gebracht. Welche Beziehung hat er zu dem Genozid?

Er redet nicht viel darüber. Als er zur Welt kam, wurden gleichzeitig viele Menschen getötet. Er hat seinen Papa, seinen Opa und die ganze ruandische Verwandtschaft nicht erlebt, sie waren alle nicht mehr da. Ich habe ihm als Kind nicht gesagt, dass es die sogenannten Hutu waren, die getötet haben. Das hat er erst in der Schule erfahren. Jetzt ist er hier in Deutschland in der 11. Klasse.

Wie schaffen Sie es, den Mördern von damals nicht mit Hass zu begegnen?

Gott hat mir geholfen, den Hass zu verarbeiten. Ich habe in dem Ort, wo ich die schlimmen Erfahrungen gemacht habe, später wieder gewohnt und den Tätern vergeben. Die ruandische Regierung tut viel dafür, dass die Menschen in Frieden zusammen leben. In vielen Orten treffen sich die Menschen – Täter und Überlebende – immer samstags zu „umuganda“, das heißt, um gemeinsam zu arbeiten, zum Beispiel die Straße zu fegen oder Bäume zu pflanzen. Anschließend sprechen sie über die Dinge, die gerade im Ort wichtig sind. In manchen Dörfern bilden die Bürger einen Sicherheitsdienst, der nachts aufpasst, dass nichts passiert. Wie reden nicht mehr von „Hutu“ oder „Tutsi“, wir sind alle Ruander.
Wolfgang Reinhardt: Hutu und Tutsi waren ja ursprünglich sozioökonomische Kategorien, die erst in der Kolonialzeit ethnisch gefüllt wurden. Im Blick auf die Vergangenheit gibt es sie noch. Aber für den Weg in die Zukunft haben sie keine Bedeutung mehr. Es verdient große Anerkennung, dass die Regierung eine „Politik der Einheit und Versöhnung“ verfolgt. Nach dem Völkermord gab es nicht – wie manche das erwartet hatten – einen Rachefeldzug gegen die Hunderttausenden von Tätern. Dass Ruanda die traditionellen dörflichen Gacaca-Gerichte eingesetzt hat, um mit der riesigen Menge an Prozessen fertig zu werden und Täter zu verurteilen, war zugleich ein großer Beitrag zur Versöhnung. Denn so waren in vielen Dörfern im ganzen Land die Bürger an den Verfahren beteiligt und es gab Aussprachen zwischen Tätern und Überlebenden vor der ganzen Dorfgemeinschaft. Viele Verurteilte sind nach wenigen Jahren wieder freigelassen worden, wenn sie ihre Schuld bekannt haben. Mittlerweile sind diese Verfahren nach fast zwei Millionen Prozessen abgeschlossen.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat im Februar einen Ruander wegen Beihilfe zum Völkermord zu 14 Jahren Haft verurteilt. Nach Ruanda wurde er nicht ausgeliefert, weil der Bundesgerichtshof befürchtete, er würde dort keinen fairen Prozess bekommen …

Diese Ängste waren meiner Ansicht nach aus der Luft gegriffen. Später stellten auch die deutschen Behörden fest, dass sie mit den ruandischen gut zusammenarbeiten konnten.

Sie kümmern sich mit der Organisation Iriba Shalom um Überlebende des Völkermords. Wie genau helfen Sie ihnen?

Denise U. Reinhardt: Im Südwesten des Landes, wo ich auch gelebt habe, haben die Milizen damals unter anderem Hutu-Frauen, die mit einem Tutsi verheiratet waren, gezwungen, ihre Kinder herzugeben. Denen haben sie dann vor den Augen ihrer Mütter den Kopf abgehackt. Diese Frauen sind schwer traumatisiert. Viele haben keine Gelegenheit, das zu verarbeiten. Sie bekommen Traumabegleitung in einer christlichen Gemeinschaft. In kleinen Gruppen tauschen sich die Frauen über ihre Erlebnisse aus. Wir beten auch mit ihnen und besuchen sie. Es gibt auch ein Partnerschaftsprogramm, bei dem junge Witwen ältere Frauen unterstützen, die keine Verwandten mehr haben. Sie helfen ihnen bei der Arbeit auf dem Feld oder holen Wasser, denn oft muss man dafür weit gehen. Wir helfen auch der jungen Generation dabei, mit ihren Müttern umzugehen. Denn wenn die Mütter Traumata haben, tragen die Last oft die Kinder. Sie sollen lernen, sich gegenseitig zu helfen. Wir lehren sie, mit Nachbarn und in der Schule versöhnt zu leben, auch wenn wir das nicht fordern können. Das ist ein langer Prozess.

Welche Rolle haben die Kirchen während des Völkermords gespielt?

Wolfgang Reinhardt: Kirchengebäude waren die zweithäufigste Mordstätte während des Genozids. Tausende haben dort Zuflucht gesucht oder wurden gezielt dorthin gelockt und dann massakriert. Das ist das eine. Die Kirchen als Institution haben von der katholischen über die presbyterianische und anglikanische bis zu den Pfingstkirchen versagt. Besonders die dominierende katholische Kirche hat über Jahrzehnte zur Spaltung des Landes beigetragen, indem sie bestimmte Bevölkerungsgruppen bevorzugte oder diskriminierte: Dokumente belegen eine sehr enge Verbindung der obersten Kirchenleiter zur Hutu-geführten Regierung und der herrschenden Klasse. Sie haben die Ideologie unterstützt, dass die Mehrheit, also die Hutu, auch alle Machtpositionen im Land besetzen sollten. Zu den Tätern im Völkermord gehörten auch Priester und Nonnen, wenn sie Milizen zu den Verstecken der Tutsi führten oder das Benzin besorgten, um sie anzubrennen. Bis heute sind Täter untergetaucht oder wurden etwa vom Vatikan geschützt.
Es gab auch heldenhafte Ausnahmen und Widerstand; Christen, die Tutsi unter Lebensgefahr versteckt und unterstützt haben. Aber diese Personen hatten nicht so viel Einfluss. Der Leiter der christlichen Organisation Africa Evangelistic Enterprise, Israel Havugimana, hat beispielsweise noch kurz vor dem Ausbruch des Völkermordes öffentlich vor dem Weg in den Abgrund gewarnt. Israel, der sich als Christ und nicht als Hutu verstand, war einer der ersten, die umgebracht wurden.

Was tun die Kirchen, um den Völkermord aufzuarbeiten?

Der Papst war einer der ersten, der den Völkermord beim Namen genannt hat. Offiziell entschuldigt hat sich die Katholische wie auch andere Kirchen für ihre Haltung aber nicht. Insgesamt tun heute die Kirchen und zahlreiche unabhängige christliche Initiativen und Gemeinschaften sehr viel für die Versöhnung und Unterstützung der Opfer.

Die Internationale Gemeinschaft hat trotz Warnungen und Hilferufen nicht in den Völkermord eingegriffen. Hat sie das mittlerweile ausreichend aufgearbeitet?

Ansätze zur Aufarbeitung gab es in Belgien und in den USA, auch die UNO hat sich selbstkritisch gezeigt. Frankreich hat eine ganz schlimme Rolle gespielt. Es hat Milizen ausgebildet, die dann Tutsi folterten und ermordeten, französische Soldaten waren auch an Verbrechen und Vergewaltigungen beteiligt. Später wurden Anführer und Drahtzieher des Völkermords lange Zeit geschützt. Mittlerweile gibt es aber wieder eine politische Annäherung zwischen beiden Ländern und die ersten Prozesse gegen Völkermörder, die in Frankreich lebten. Ein französischer Untersuchungsbericht kam vor zwei Jahren zu dem Ergebnis, dass der Abschuss des Präsidentenflugzeugs, der den Völkermord auslöste, aus den Reihen der Hutu selbst kam. Damit ist endgültig die These widerlegt, dass der Völkermord nur eine Reaktion auf den Abschuss des Flugzeugs oder gar von der Tutsi-Rebellenarmee geplant war, um an die Macht zu kommen. Ähnliche Propaganda wird immer wieder gegen alle wissenschaftlichen Beweise von einem internationalen Netzwerk von Verbündeten des alten Regimes verbreitet. Diese sind oft besser organisiert als die Opfer. Inwiefern deutsche Organisationen und Regierungsstellen das totalitäre Regime unterstützten, sollte auch einmal gründlich untersucht werden.

Wie begeht Ruanda den 20. Jahrestag des Völkermords?

Denise U. Reinhardt: Das Motto des Gedenktages heißt „Kwibuka20“, das Wort bedeutet „erinnern“. Neben offiziellen Gedenkfeiern und internationalen Konferenzen gab es einen Fackellauf durch ganz Ruanda und auch in anderen Ländern. Die „Fackel der Hoffnung“ soll das Licht symbolisieren, das nicht ausgeht, damit wir richtige Entscheidungen für die Zukunft treffen. Mein jüngster Sohn hat die Fackel von Hannover nach Köln gebracht.

Vielen Dank für das Gespräch! (pro)

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