Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), hat sich dafür ausgesprochen, dass die Kirche gegenüber dem Staat ein Wächteramt wahrnimmt. Das sei ein „unverzichtbarer Bestandteil ihres Auftrags“, sagt Schneider am Dienstag in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin. Schneider sprach auf dem Symposium „Reformation – Politik – Polizei“, zu dem der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union zusammen mit der Evangelischen Polizeiseelsorge in Deutschland eingeladen hatte.
Schneider bezog sich unter anderem auf die Barmer Theologische Erklärung von 1934. Das Zitat „…Unter Androhung von Gewalt für Recht und Frieden sorgen“ über die Aufgabe des Staates aus der fünften These der Erklärung war die Überschrift des Symposiums. Schneider verwies zunächst darauf, dass das Wächteramt in der reformierten Kirche als etwas verstanden wurde, dass sich „in der Schriftauslegung, unter dem Beistand des Heiligen Geistes und in der Gemeinschaft der Kirche“ vollzieht. Es gehe also nicht um die Überzeugungen eines Einzelnen.
„Die Herrschaft Jesu Christi relativiert schon jetzt alle irdische Macht“, sagte Schneider mit Blick auf die Barmer Theologische Erklärung. Politische Herrschaft sei begrenzt und rechenschaftspflichtig. Die Kirche sei aber nicht in einer überlegenen, sondern in einer solidarischen Position. Wie auch der Staat stehe sie in einer noch nicht erlösten Welt, in der Zeit zwischen der Auferweckung und der Wiederkunft Jesu Christi. Der Staat habe in dieser Zeit ein relatives Recht und eine relative Würde. Die Kirche müsse an Gottes Reich, Gebot und Gerechtigkeit erinnern, ohne Rechthaberei, Besserwisserei und ohne den moralischen Zeigefinger. „Aber doch mit der Gewissheit, dass ihr im politischen Raum artikuliertes Wort den politischen Raum weit überschreitet.“
Gewalt ist nicht gleich Gewalt
Zuvor hatte der Staatsrechtlehrer und Rechtsphilosoph Horst Dreier, Professor der Universität Würzburg, über den Begriff der Gewalt gesprochen. Dreier begann mit der Annahme: „Gewalt, so scheint es, ist stets ein Übel“. Das deutsche Wort „Gewalt“ habe aber eine doppelte Bedeutung. Es bezeichnet sowohl die körperliche, rohe Gewalt als auch die Staats- und Amtsgewalt, zu der es zum Beispiel auch gehört, wenn Parlamentarier ein Gesetz verabschieden. Dreier verwies auf Immanuel Kants „Metaphysik der Sitten“ und erklärte, wenn der Staat Zwang ausübe, sei das nichts Negatives, sondern „die Bedingung der Möglichkeit individueller Freiheit“. Der Schlag eines Polizisten mit einem Schlagstock auf jemanden, der einen Molotowcocktail werfe, unterscheide sich äußerlich nicht vom Stockhieb eines Räubers. Aber sie hätten eine vollkommen andere Bewertung, einen anderen normativen Sinn, und das Recht sei ein Deutungsschema, um dies zu erkennen. Gewissensnöte für die Polizisten blieben trotzdem: „Ich will sie niemandem ausreden oder für gegenstandslos erklären“, sagte Dreier. Er gab aber zu Bedenken: „Ohne staatliches Gewaltmonopol gibt es keine staatliche Rechtsordnung“. Die schlechtere Alternative sei das Recht des Stärkeren.
Oberkirchenrat Stephan Iro sprach in seiner Begrüßungsrede von der „kritischen Verbundenheit“, mit der die kirchliche Polizeiseelsorge die Polizei begleite. Er grenzte die Situation im deutschen Rechtsstaat von der völligen Unsicherheit in anderen Ländern einerseits und von der exzessiven staatlichen Gewalt in anderen Ländern andererseits ab und dankte der Polizei für die Sicherung von Recht und Frieden im Land.
Die Konferenz Evangelischer Polizeipfarrerinnen und Polizeipfarrer (KEPP) hat sich anlässlich der Reformationsdekade seit 2010 mit dem Thema „Reformation und Politik“ auseinandergesetzt und unter den drei Überschriften „Gewalt- ein notwendiger Übel“, „Kirchliches Wächteramt“ – Auftrag und/oder Anmaßung“ und „Gewissensnot – Unglück oder Glücksfall“ mehrere Thesen erarbeitet. Auf dem Symposium in Berlin sprach ein Referent zu jedem der Aspekte. (pro)