Die Stimme der Machtlosen

Pranitha Timothy spricht leise. Ihre Stimme ist flach und brüchig. Sie klingt rau, als wäre sie heiser, nur nicht so tief wie bei einer Erkältung. Dass sie überhaupt sprechen kann, ist für die Inderin ein Wunder. Denn durch einen Gehirntumor hatte sie für zwei Jahre ihre Stimme komplett verloren. Doch das ist nicht das größte Wunder in ihrem Leben.
Von PRO
Setzt sich für die Befreiung von Arbeitssklaven in Indien ein: Pranitha Timothy. Die gläubige Christin sprach auf dem Willow Creek-Leitungskongress

Als Pranitha Timothy die Bühne betritt, brandet Applaus auf. Sie steht hinter dem Pult, vor knapp 8.000 Zuhörern, lächelt, etwas verlegen. Erst drei Tage vor ihrem Auftritt bekam die 39-Jährige die Erlaubnis, nach Deutschland einzureisen, um auf dem Willow-Creek-Leitungskongress zu sprechen. Nun ist sie als Staatsgast da. Ihr Visum wurde aus formalen Gründen mehrfach abgelehnt. Ein eilig einberufener Sonderstab des Auswärtigen Amtes befand schließlich, dass es ein nationales Interesse am Besuch von Timothy gab. So wurde ihre Einreise doch noch bewilligt. Timothy trägt einen blauen Sari und eine Brille mit dickem, dunklen Rahmen. Einzelne graue Strähnen schimmern durch ihr schwarzes, gewelltes Haar. Wer sie sprechen hört, fürchtet, ihre Stimme könnte sich beim nächsten Wort überschlagen oder abbrechen.
Die Mutter zweier Kinder ist als Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation „International Justice Mission“ daran beteiligt, Arbeitssklaven aus Reismühlen oder Ziegelfabriken zu befreien. Bei diesen Aktionen ist sie neben Polizei und Behörden selbst mit dabei und begleitet die Arbeiter. Sie ist Sozialarbeiterin und hilft den befreiten Menschen, wieder in der Gesellschaft und im Leben Fuß zu fassen. Die Befreiungsoperationen sind nicht ungefährlich. Timothy hat schon erlebt, dass sie und ihr Team mit den versklavten Arbeitern in eine Falle gelockt wurden. Ein Mob drohte, Männer, Frauen und Kinder umzubringen. Timothy hat in solchen Situationen keine Angst, sie weiß, dass sie dazu berufen ist, mutig zu sein. „In diesen Momenten brauchen wir die richtige Perspektive. Wir müssen glauben und wissen, dass das Leben nicht uns gehört.“ Die Menschen, denen Timothy hilft, erleben, dass sie Gutes tun möchte. Zwar redet sie mit ihnen nicht über Jesus, aber sie wissen, dass sie und ihre Kollegen Christen sind.

„Die Leute hatten Angst vor mir“

Als Kind schwört Timothy, niemals Christ zu werden. Ihre Eltern waren Missionsärzte in abgelegenen Dörfern Indiens. Damit sie, ihre zwei Schwestern und ihr Bruder in die Schule gehen können, müssen sie in ein christliches Internat in die Stadt. Einmal im Jahr sehen sie die Eltern. Timothy fühlt sich alleingelassen und wertlos. Sie hasst Jesus und ihre Eltern dafür, dass sie von ihnen getrennt wurde. Den Kontakt zu ihren Geschwistern bricht sie ab. Sie isoliert sich emotional und sozial. „Ich habe nie geweint. Ich war hartherzig, und die Leute hatten Angst vor mir. Alles, was ich wollte, habe ich gemacht, egal ob es moralisch war oder nicht. Ich war nur für mich selber da“, sagt sie. Sie unterbricht andere beim Beten und stört bei christlichen Veranstaltungen. Im Internat hat sie den Spitznamen „CC“ – cool and calculated – kühl und berechnend. Ein Mädchen muss ihretwegen mit psychischen Problemen ins Krankenhaus. Schließlich fliegt Timothy wegen ihres Verhaltens von der Schule.
In ihrer Zerbrochenheit spürt Timothy, dass es für ihr Leben nur Hoffnung gibt, wenn Jesus ihr vergibt. „Ich wusste, ich brauche seine Kraft, um die Dunkelheit in meinem Leben zu überwinden. Der Jesus, den ich abgelehnt habe, dem ich nicht folgen wollte, ist der einzige, der sagt: Komm, so wie du bist.“ Es sei ein innerer Kampf gewesen, das anzunehmen, sagt Timothy. Warum sollte ihr jemand etwas geben? Sie fühlt sich unwürdig, doch sie handelt mit Gott, will es versuchen. Wenn es funktioniert, wenn sich etwas in ihrem Leben verändert, will sie am Glauben festhalten. Eigentlich hat sie vor, an einem anderen Ort ein neues Leben als Christ anzufangen. Dort, wo niemand sie kennt. Doch Jesus überzeugt sie, gerade in der Stadt, in der sie verrufen war, dieses andere, gegenteilige Leben zu leben.
Kurz vor dem Ende ihres Master-Studiums, als Timothy seit etwa zwei Jahren Christ ist, bittet sie Gott, ihr zu zeigen, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Im Gottesdienst geht es um einen Text des Propheten Jesaja: „Das ist mein Diener, den ich auserwählt habe … Er wird Gerechtigkeit hervorbringen … und Gefangene aus dem Kerker holen … Er wird nicht schreien oder rufen und er wird nicht auf den Straßen zu hören sein.“ Timothy spürt, dass sie damit gemeint ist. Das ist Gottes Antwort auf ihr Gebet. „Das war eine wunderschöne Vision, Gottes Ruf, ein Licht für die Völker zu sein. Eine Dienerin zu sein, die Gerechtigkeit auf der Erde wiederherstellt“, sagt sie. Aber sie hat keine Ahnung, was das konkret bedeuten könnte.

Das größte Wunder

Damals spielt Timothy regelmäßig Basketball. Sie ist kaum größer als anderthalb Meter, aber sie trifft den Korb von der Mittellinie aus. „Ich bin nicht groß, aber ich war stark“, sagt sie, in ihrer Stimme weht ein Hauch von Stolz. Doch dann spürt sie beim Werfen, dass sie in Schultern und Armen nicht mehr soviel Kraft hat wie sonst. Der Grund dafür sitzt in ihrem Kopf: ein Gehirntumor, der sich bis ins Rückenmark hinabzieht. Der Tumor kann zwar entfernt werden, aber Timothy verliert 60 Prozent ihrer Muskelkraft in der rechten Körperhälfte, sie kann rechts nicht mehr hören, nicht mehr schlucken und verliert ihre Stimme. „Ich hatte Gottes große Verheißung, aber meine Realität war so weit davon weg“, sagt sie. Trotzdem zweifelt sie nicht an ihrer Berufung. Denn in ihrem Bibelvers heißt es auch: „Er wird nicht schreien oder rufen.“ Timothy versteht das als eine Berufung dazu, Gott treu zu sein, sich auf ihn und das, was er gibt, zu verlassen. Nach zwei Jahren bekommt sie ihre Stimme wieder. Eine leise, verletzte Stimme, die sie denen leiht, die völlig machtlos sind. „Meine Stimme ist sehr dünn, aber sie ist kraftvoll in Gottes Hand.“ Vor Gericht sagt Timothy als Augenzeugin der Befreiungsaktionen gegen Sklavenhalter aus. Diese beschimpfen sie dann oft und behaupten, sie würde lügen und sei nicht dabei gewesen. Dann stehen die Aussagen gegeneinander. „Da könnte ich wütend werden, aber ich muss ruhig bleiben, um den Prozess nicht zu gefährden“, sagt sie und man spürt ihr die Unruhe und Kampfeslust ab, wenn sie darüber spricht.
„Früher wollte ich Leute fertig machen, heute baue ich Vertrauen auf“, sagt Timothy. „Gott hat mir Mitgefühl gegeben für Kinder und Familien.“ Dass Gott ihr Herz in dieser Weise veränderte, sei das größte Wunder ihres Lebens. Wenn sie über ihr Leben und ihre Arbeit spricht, wird deutlich, dass es dabei nicht um sie selbst geht, sondern darum, dass Gott gut ist – bei allem Schmerz und allem Leid, das sie selbst immer wieder sieht; bei den Sklaven oder bei jenem sechsjährigen Jungen, der eine Operation nicht überlebte, von der Timothys Team die Familie ein Jahr lang überzeugte. Warum hat Gott das zugelassen? Was sollen die Menschen von ihm denken? Andererseits: Wenn sie den Menschen etwas Gutes tun möchten, wie viel mehr muss Gott selbst das wollen? „Wenn wir nicht die Hoffnung hätten, dass Gott gut ist, könnten wir mit unserer Arbeit aufhören.“ Dies mache es überhaupt erst möglich, Menschen zu retten. „Sie macht uns fähig, zu glauben, dass Gott auch die hoffnungslosesten Fälle verändern kann.“
Als Timothy ihren Vortrag beendet, erhebt sich die ganze Halle und applaudiert. Es ist ein Beifall der Hochachtung und der Dankbarkeit. Manche Zuhörer wischen sich eine Träne weg. (pro)

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