„Gebete sind das wichtigste, was die Ukraine braucht“
Ralf Haska ist Pastor der Deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde in der ukrainischen Hauptstadt Kiew – dort, wo Demonstranten Milizen der Regierung gegenüberstehen. Haska geriet selbst zwischen die Fronten.
Seit Wochen protestieren Ukrainer gegen ihre Regierung. Hier, bei einer Demonstration am 1. Dezember, versuchen Regierungsgegner die Polizeilinien vor dem Präsidentenpalast zu durchbrechen
Seit Wochen demonstrieren Ukrainer gegen ihre Regierung. Zentraler Ort für die Proteste ist der Maidan, der Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Im Regierungsviertel, nur wenige Meter davon entfernt, liegt St. Katharina, die Kirche von Ralf Haska. Anfang der Woche räumten Einheiten der Regierung dort die Protest-Barrikaden. Ein Trupp von bewaffneten Demonstranten marschierte vom Maidan Richtung Kirche, wo Milizen der Regierung stehen: „100 bis 150 junge kräftige Männer mit Stahlhelmen, Masken und riesigen, scharfkantigen Knüppeln, mit schusssicheren Westen und Schutz an allen Körperteilen – die waren drauf und dran, die Polizisten, die Miliz, zusammenzuschlagen und in die Reihen reinzustürmen“ erzählt Haska am Donnerstag gegenüber tageschau.de. Die Milizen und die Demonstranten stehen sich Auge in Auge gegenüber – direkt vor seiner Haustür. Um nicht tatenlos zuzusehen, zieht er seinen Talar und die Stola über und drängelt sich zwischen die Reihen. „Das war nicht mutig, ich war verzweifelt in der Situation“, sagt er.
Den Anführern der jungen Männer erklärt Haska, der aus Brandenburg stammt, wie das 1989 in der DDR war: „Wir haben damals gewonnen, weil wir friedlich geblieben sind. Wir haben eine friedliche Revolution in die Wege geleitet. Und niemandem ist damit geholfen, wenn von irgendeiner Seite Gewalt angewendet wird“, zitiert ihn tageschau.de. Bis auf ein paar Rangeleien kommt es nicht zur Eskalation. Er ist sich sicher: Wenn sie dort aufeinander losgegangen wären, hätte es Tote gegeben, sagt Haska gegenüber pro.
Heißer Tee für Milizen und Demonstranten
Die Türen der Deutschen evangelisch-lutherischen Kirche stehen allen offen. Demonstranten und Milizen, die in der Kälte draußen ausharren, bekommen dort etwas Warmes zu trinken und zu essen, sie können sich aufwärmen oder auch einfach etwas zur Ruhe kommen. Von den Regierungstrupps sei aber nur sehr selten jemand zu Gast, erzählt Haska. „Am Anfang haben wir ihnen auch heißen Tee in ihre Busse gebracht, aber dann haben sie den Befehl bekommen, dass sie das nicht mehr annehmen dürfen.“ Wenn ab und zu einer der ihren in der Kirche vorbeischaut, verbinde er es mit einem Gang zur Toilette. Vereinzelt sei es auch vorgekommen, dass Polizisten und Demonstranten zusammen am Tisch saßen. Mittlerweile dient die Kirche auch als Übernachtungsort, vor allem für diejenigen, die von weiter weg nach Kiew zu den Demonstrationen kommen. Im Moment sei es eher ruhig, aber für das Wochenende erwartet Haska wieder viele Menschen. Das Engagement der Kirche trägt die ganze Gemeinde mit. Immer sei jemand da, um zu helfen, Suppe oder Tee zu kochen, Nachtwachen zu halten. Am Anfang der Woche machen sie Pläne dafür. „Aber das ist nur Makulatur“, sagt der Pastor. Die Situation ändere sich sehr schnell und sei nicht kalkulierbar.
Die regelmäßigen Veranstaltungen der Gemeinde gehen trotzdem ganz normal weiter – Gottesdienste, Abendgebete, Chorproben. Am Sonntag gibt es ein Adventskonzert. „Das werden wir nicht absagen. Die Menschen brauchen auch seelische Unterstützung“, sagt Haska. Zum Gottesdienst wird wohl die ganze Gemeinde anwesend sein, vermutet er. „Sie wissen, dass wir miteinander für Frieden beten müssen.“ Nach dem Gottesdienst werden viele von ihnen auf den Maidan gehen. Zu den regelmäßigen Abendgebeten der Gemeinde kommen derzeit mehr Leute als sonst, sagt der Pastor. Und als die Demonstrationen noch direkt vor der Kirche entlangführten, sei es auch voller gewesen. Vom Maidan komme aber niemand extra in die Kirche hoch.
„Hauptsache friedlich“
Doch gebetet wird auch auf dem Platz. Beim Ökumenischen Friedensgebet in der St. Katharina-Kirche vor zwei Wochen entstand die Idee, ein Gebetszelt dort aufzubauen. Die baptistische und die Freie evangelische Gemeinde organisierten ein Armeezelt dafür und betreuen es. Haskas Gemeinde versorgt die Helfer dort mit Kaffee, Tee und Broten. Wer möchte, kann einfach in das Zelt gehen, um zu beten. Zwei bis drei Mal am Tag schaut Haska dort vorbei. Heut waren eine Handvoll Leute da, dann haben sie mit Gott gesprochen – auf Russisch, Ukrainisch, Deutsch. Auch die orthodoxe Kirche hat ein Zelt auf dem Maidan.
Für Haska ist das Gebetszelt das wichtigste auf dem ganzen Platz. Durch die friedliche Revolution in der DDR hat er die Erfahrung gemacht: Gebete, Kerzen und Friedfertigkeit können die Welt verändern. „Gebete sind das wichtigste, was die Ukraine jetzt braucht. Gebete für Frieden, Besonnenheit, Weisheit und Klugheit bei den Entscheidungen, die getroffen werden.“ Haska selbst demonstriert nicht mit. Das sei Sache der Ukrainer. Aber er habe Sympathien mit den Demonstranten und könne die Forderungen der Opposition nach einem Rechtsstaat, nach Demokratie, gegen Korruption verstehen. Aber das wichtigste sei: „Es muss friedlich bleiben. Die Konfliktparteien müssen Kompromisse finden, nur so kann es eine Lösung geben.“ Die Kirchen in der Ukraine haben zum Frieden aufgerufen und dazu, den Ausgleich und das Gespräch zu suchen. In die politischen Prozesse oder gar als Vermittler seien sie aber nicht so eingebunden, wie es damals in der DDR war, sagt Haska. Im Schaukasten seiner Gemeinde habe er einen Aushang gemacht: „Wer Gewalt einsetzt, hat das Recht verloren, Führer des ukrainischen Volkes zu sein.“ Wer zuschlägt, der hat Gott nicht auf seiner Seite, davon ist Haska überzeugt. (pro)
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