Alice Schwarzer und die Frauenbewegung Femen wollen die Prostitution ächten. Genauso wie viele Christen. Gemeinsam kämpfen sie gegen eine Hand voll lautstark auftretender Prostituierter, die ihren Beruf in Gefahr sehen und das Leid Tausender verdrängen. Ein Kommentar von Anna Lutz
Alice Schwarzer kämpft dafür, dass das Prostitutionsgesetz überarbeitet wird – genau wie viele Christen
Donnerstagabend. 20.15 Uhr. Veranstaltungsort Urania, Berlin: Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer betritt die Bühne vor gefülltem Saal. Sie wird an diesem Abend nicht über den Feminismus als solchen oder ihren einstigen Kampf für die Legalisierung der Abtreibung sprechen. Es geht auch nicht um ihre klare Befürwortung einer Idee des Gender Mainstreaming, nach der das Geschlecht sozial konstruiert ist. Nein, sie widmet sich einem Thema, bei dem ausgerechnet zahlreiche Christen, die Schwarzer ansonsten mal zu Recht, mal zu Unrecht, überaus kritisch sehen, lautstark applaudieren dürften: „Prostitution – Ein deutscher Skandal“.
So lautet auch der Titel ihres neuesten Buchs, das ein Appell an die Politik ist, die Folgen des Prostitutionsgesetzes von 2002 wahrzuhaben und etwas dagegen zu unternehmen. Seit dieser Regelung ist das Anschaffen in Deutschland endgültig legalisiert. Verbunden war die Bucherscheinung mit einer Kampagne der Schwarzer-Zeitschrift Emma, in der Prominente von Margot Käßmann bis Ranga Yogeshwar das Ende der „modernen Sklaverei“ in Deutschland fordern. Und sie war begleitet von Gegenprotesten. Schon die Kampagne wollte etwa die Frauenorganisation „Terre des Femmes“ nicht unterschreiben, ebensowenig wie Politiker der Grünen. Für den Donnerstagsabend hatte unter anderem der Interessenverband für Prostituierte, Hydra, zu Protesten gegen Schwarzer aufgerufen. Vor der Urania postierten sich im Vorfeld Frauen, die ihre selbstbestimmte Arbeit lobten und Schilder mit der Aufschrift „Halt die Klappe Alice“ oder rote Schirme mit dem Spruch „Wir müssen nicht gerettet werden“ hochhielten. Flyer mit dem Slogan „Mein Beruf gehört mir“ gab’s obendrauf.
„Oft noch halbe Kinder“
Die Stimmung im Saal ist nun wenig anders: Schwarzer wird frenetisch begrüßt, etwa von den extra erschienen Femen, die eigentlich dafür bekannt sind, Protest gegen in ihren Augen frauenfeindliche Politik durch das Entblößen des Oberkörpers zu zeigen. Doch es dauert nicht lange, da öffnen sich auch im Saal die roten Schirme, ein Banner wird entrollt, wutschnaubende Prostituierte postieren sich am Rand der Bühne, eine stürmt diese sogar, zieht sich die Hose herunter und skandiert: „Mein Beruf gehört mir!“ Schwarzer trägt das mit einem Lächeln. „So etwas habe ich in meiner politischen Karriere schon oft erlebt, ihr Lieben“, sagt sie fast großmütterlich und bringt die Massen dann tatsächlich immer wieder zum Schweigen. So können die Zuschauer zum Beispiel der Sozialarbeiterin Sabine Constabel zuhören, die einen Prostituiertentreff in Stuttgart leitet und vom Leid der Zwangsprostituierten aus Osteuropa berichtet: „Diese Frauen entscheiden nicht, wann sie essen oder wann sie schlafen.“ Oder dem Augsburger Kriminalhauptkommissar Helmut Sporer, der von Bordellkontrollen erzählt, bei denen Frauen aufgegriffen würden, die „oft noch halbe Kinder“ seien. Oder der Ex-Prostituierten Marie, die zugibt, bis heute keine körperliche Nähe zu Männern mehr ertragen zu können.
Doch selbst während solcher Leidensschilderungen sind immer wieder Schnaub- und Buhrufe aus dem Publikum zu hören. Und genau hier liegt das Problem des pseudofeministischen Pro-Prostitutionsprotests einer kleinen Gruppe von Frauen, die auftreten als wären sie die Mehrheit. Sie verschließen sich gegenüber dem Leid ihrer oft osteuropäischen Kolleginnen. Allein in Berlin arbeiten derzeit nach Schätzungen der Behörden 6.000 bis 10.000 Prostituierte. Rund 70 Prozent sind nicht-deutscher Herkunft, das ist ein plus von 20 Prozent seit der Einführung des Prostitutionsgesetzes. Etwa 80 Prozent der nichtdeutschen Frauen geben Gelder an Zuhälter ab, 70 bis 95 Prozent aller Frauen werden in ihrem Beruf Opfer körperlicher Gewalt, 60 bis 75 Prozent werden vergewaltigt, die Hälfte mehrfach und zwei Drittel leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Diese Zahlen haben Studien im Laufe der vergangenen Jahre ergeben; sie beruhen auf Angaben von Gesundheitsämtern und Beratungsstellen. Frauenorganisationen und soziale Hilfseinrichtungen benennen das immer wieder, Verbände wie Hydra tun die Zahlen als erfunden ab. Doch wer es sich einmal antun möchte, könnte am Freitagabend entlang der Berliner Kurfürstenstraße, dem Drogen- und Armutsstrich, an dem schon Christiane F. stand, flanieren und schlicht seinen Augen trauen. Dort arbeiten jene Frauen, die auch in der Urania keine Stimme haben. Diejenigen, die nur gebrochen Deutsch sprechen. Diejenigen, die gerade mal 18 oder 20 Jahre alt sind. Diejenigen, die arbeiten, um ihre Drogen zu finanzieren, ihre Familie in der Heimat zu ernähren oder ihrem mutmaßlichen Freund das Einkommen aufzubessern.
„Realität sticht Ideologie, meine Lieben“
Man kann den Prostituierten-Verbänden nicht vorwerfen, dass sie eine wie auch immer geartete Berufsehre verteidigen wollen. Alice Schwarzer macht keinen Hehl daraus, eine Verfechterin der Freierbestrafung zu sein, dem sogenannten schwedischen Modell, bei dem sich nicht die Prostituierte strafbar macht, sondern der Mann, der sie kauft. Selbstverständlich sehen Prostituierte bei dem Gedanken ihre Kunden davonlaufen. Vorwerfen kann man ihnen aber, dass sie mutwillig wegschauen. Zu viele Zeitzeugenberichte, zu viele Appelle von Sozialarbeitern und auch christlichen Organisationen gibt es, die deutlich machen, dass die Not in der Branche die Selbstbestimmtheit weit überwiegt.
Christen sollten Alice Schwarzer jenseits aller alten Grabenkämpfe dankbar sein, dass sie das Thema Prostitution zu ihrem gemacht hat. Schon jetzt ist es in die Koalitionsverhandlungen eingeflossen und die Chancen stehen gut, dass das Prostitutionsgesetz in naher Zukunft neu in Angriff genommen wird. „Realität sticht Ideologie, meine Lieben“, ruft Schwarzer den Prostituierten in der Urania zu. Realität sticht Ideologie. Auf dass das auch die Politik und allen voran die SPD, die mit für das Prostitutionsgesetz verantwortlich war, erkenne. (pro) Die Autorin ist ehrenamtliche Mitarbeiterin einer christlichen Organisation, die sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen Armuts- und Zwangsprostituierter in Berlin einsetzt.
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