Thierse prangerte bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Politikerinnen und Politiker als moralische Vorbilder?“ eine „Hysterisierung der politischen Kommunikation“ an. Als Beispiel diente ihm der derzeit laufende Prozess um Christian Wulff. Zu dessen Verfehlungen sagte Thierse: „Das war peinliches Verhalten.“ Doch statt dies zur Kenntnis zu nehmen, hätten die Medien einen großen Skandal daraus gemacht. Der Gesellschaft attestierte er schizophrenes Verhalten: „Boris Becker ist ein Steuerhinterzieher.“ Dennoch sei er öffentlich gefragt. „Das sollte ein Politiker einmal wagen.“
Der Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, Hans Leyendecker, stimmte zu: Der journalistische Boulevard wolle heute immerzu jemanden jagen. Mit der Wulff-Affäre tue er sich ebenfalls schwer. „Wir leben in einer Erregungsgesellschaft“, sagte er. „Ich mache jetzt seit 30 Jahren Affären-Geschichten. Mir ist nicht aufgefallen, dass die Politiker, die wir heute haben, korrupter sind.“ Er führte die „Jagdgesellschaft“ zurück auf den Konkurrenzdruck innerhalb der Medien. Wer Skandale aufdecken wolle, brauche Zeit. Die habe heute aber niemand. „Damit ruinieren wir uns selbst“, sagte Leyendecker. „Wir sind verlogen“, stellte er mit Verweis auf die Gesamtgesellschaft fest: „Diese Politiker sind angeblich korrupte Säcke – aber wie viele Leute lassen ihr Badezimmer fliesen, weil da angeblich ein Schaden war?“