Wenn es um religiöse Fragen in der Gesellschaft geht, gebe es von allen Seiten generell Überreaktionen, stellt Willems fest. Besonders nach dem Beschneidungsurteil habe er das beobachten können: „Es gab schrille Töne im Journalismus und sogar Phänomene von antireligiöser Militanz“, sagte er in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Gegenüber Muslimen gebe es in Deutschland eine große Skepsis. Aber auch die Rolle der Kirchen sei umstritten. Sowohl zwischen als auch innerhalb der politischen Parteien gebe es dazu gegensätzliche Positionen – von laizistischen Forderungen, Kirche und Staat strikt zu trennen, bis zum herkömmlichen Modell einer engen Kooperation zwischen christlichen Kirchen und Politik, wie es die CDU vertritt.
Die heutige religionspolitische Ordnung in Deutschland sei historisch bedingt stark auf die Kirchen ausgerichtet. An den Islam habe man in den 1950er Jahren noch nicht gedacht. „Dieses Ungleichgewicht muss aufgehoben werden.“ Dass es einen politisch Druck gebe, religiöse Belange zu klären, zeige sich beispielsweise an Themen wie dem Bau von Moscheen, dem Schächten oder dem Konflikt um die Beschneidung. Fortschritte habe es erst in letzter Zeit beim islamischen Religionsunterricht und der Lehrerausbildung gegeben. Religionspolitik müsse allerdings mit Blick auf vorwiegend kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen und das besondere kirchliche Arbeitsrecht auch die größer werdende Zahl von Konfessionslosen berücksichtigen.
„Forderung nach Religionsfreiheit ist berechtigt“
Willems, der an der Universität Münster am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ mitarbeitet, fordert eine breite öffentliche Debatte über religiöse Minderheiten und die Rolle der Kirchen. „Ist das Kreuz in öffentlichen Institutionen berechtigter öffentlicher Ausdruck der historischen christlichen
Prägung eines Landes oder ungerechtfertigte Bevorzugung einer religiösen Tradition? Ist der Umstand, dass es keine gesetzlichen Feiertage religiöser Minderheiten gibt, eine Folge ökonomischer Notwendigkeiten oder stellt er doch eine Diskriminierung dieser Minderheiten dar?“ Solchen Fragen müsse sich die Politik stellen. Willemsen nennt Kanada als Vorbild. Dort habe eine unabhängige Kommission Anhörungen mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen veranstaltet.
Hierzulande unterschätzten nach Ansicht Willemsens sowohl die Parteien als auch die Wähler den religionspolitischen Reformbedarf. Es reiche nicht aus, dass „die politischen Eliten entscheiden und Streitfragen vom Bundesverfassungsgericht gelöst werden“, sagte er. Die Bevölkerung müsse darauf vorbereitet werden, dass es für eine vielfältigere religiöse Landschaft auch politische Veränderungen brauche. Die „berechtigte Forderung der Muslime nach Religionsfreiheit“ nehme die Mehrheit ansonsten so wahr, als wollten Muslime Sonderrechte durchsetzen oder seien eine Gefahr für die säkulare Ordnung der Gesellschaft. (pro/dpa)