2009 habe der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber den Wunsch geäußert, „eine offene, evangelische Position zur Familie zu formulieren, die die aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen aufnimmt, ohne darin aufzugehen“. Ursprünglicher Ansatz des Papiers sei es gewesen, wie die Kirche in Zeiten des Wandels ein "Ja zu Ehe und Familie unterstützen“ könne.
Unter Niveau geraten
Der aktuelle Text stelle jedoch alles auf den Kopf, was Huber sich vorgestellt habe. Das Wort Ehe komme im Titel des Papiers gar nicht vor. Auch den Ansatz, nicht „in gesellschaftspolitischen Fragen zu verschwimmen, habe das Papier nicht erfüllt“, schreibt Wagner. Für den ehemaligen katholischen Theologieprofessor Gerhard Müller ist es „unter Niveau geraten“. Der Wiener Theologieprofessor Ulrich Körtner sieht das „Leitbild der lebenslangen Ehe und Familie“ aufgegeben. Nebenbei werfe die Kirche "alle bisher geltenden Überzeugungen über Bord".
Empörung, meint Wagner, löse nicht die Stärkung homosexueller Paare aus, sondern die theologische Schlampigkeit des Papiers. Konservative Christen schäumten vor Wut und prominente Vertreter forderten sogar den Rücktritt des amtierenden EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider. Mit dem Papier habe die Kommission den Ballast Martin Luthers abgeschüttelt, für den die Ehe „Gottes Ordnung, Gottes Stiftung und pflichtmäßige Anordnung“ war.
Kein gewissenhafter Umgang mit der Bibel
Kritik übt Wagner auch an den Autoren der Studie. Ute Gerhard, jetzt emeritierte Soziologieprofessorin, habe bereits 1997 einen Aufsatz mit dem Titel „Das Konzept der Ehe als Institution – eine Erblast im Geschlechterverhältnis“ geschrieben. Keines der 14 Kommissions-Mitglieder hätte sich dem Ziel entgegengestellt, „den Begriff der Ehe als Institution Gottes zu den Akten zu legen“. Wagner bemängelt, dass sich in der von Wolfgang Huber gebilligten Kommission kein Exeget befunden habe, „der auf einen gewissenhaften Umgang mit der Bibel hätte achten können“. Der vorliegende von der Kommission erarbeitete Text sei kein Versehen. Mit der Orientierungshilfe schwenke die Kirche nun in eine Richtung ein, in der sie längst ihre Familienpolitik betreibe.
Susanne Breit-Kessler, Regionalbischöfin von München und Oberbayern, verteidigt in dem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Vorgehensweise: „Die Ehe hätten sie als hochgeschätzte, selbstverständliche Größe vorausgesetzt.“ Alles Wichtige zur Ehe stehe im EKD-Papier aus dem Jahr 2009 „Zum evangelischen Verständnis von Ehe und Eheschließung“. Mit ihrer Vorgehensweise habe sich die Kommission weit von Hubers ursprünglichem Auftrag entfernt. Fast erbost ist Wagner darüber, dass der EKD-Rat das Papier passieren ließ.
Gegen heftigste Widerstände nicht freigegeben
Zur Gruppe der Kritiker gehört die Laienvertreterin im EKD-Rat Tabea Dölker. Sie habe die Einwände gebracht, die jetzt in der Diskussion auftauchten. Auch der badische Landesbischof, Ulrich Fischer, habe dem vorgelegten Papier „deutlich widersprochen“. Wagner fragt, wieso dies erst jetzt alle merkten. Grundlegende Änderungswünsche des Rates an die Kommission habe es trotz dreier Lesungen nicht gegeben. Gegen heftigste Widerstände hätte man die Schrift nicht freigegeben, heißt es aus dem Rat.
Die Widerstände könnten erst jetzt auftauchen, nachdem die Laien und die Basis den Text gekannt hätten. Badische Pfarrer starten sogar eine Unterschriftenaktion und fordern die Rücknahme des Textes. „Es gab auch Lob – vor allem dafür, dass die Schrift die Realität umfassend darstelle und eine fällige Debatte anstoße. Aber nicht für das, was sie eigentlich sein sollte: eine Orientierungshilfe“, meint Wagner. Erst nach Wochen der Verteidigung habe auch Nikolaus Schneider Selbstkritik anklingen lassen.
Wer zeichnet die Leitbilder?
Aus Sicht der Autorin Marie Katharina Wagner spielt sich der Streit noch auf einer anderen Ebene ab. Es gehe auch um die Frage: Welche Art von Kirche wollen wir? Die Reihenfolge jedenfalls, dass die Gesellschaft die Leitbilder vorzeichnet und die Kirche ihnen folgt, halten viele für verkehrt herum. (pro)