Kamann begründet seine These mit diesen Notizen des Reformators aus seiner Zeit als Augustiner-Mönch. Sie spiegeln die Komplexität der Religionsdebatten der damaligen Zeit wider. Mit Notizen hatte Luther unter anderem einen Text des humanistischen Klerikers Jakob Wimpfeling versehen. Dieser habe für einen humanistischen Wandel des Katholizismus plädiert: „Reformbereite Geister konnten damals also auch andere Wege einschlagen, als es die Reformatoren taten“, meint Kamann.
Die Beschäftigung mit dem Kleriker Wimpfeling zeige auch, wie wenig sich Luthers reformatorische Erkenntnis auf seine Klosterjahre reduzieren lasse. Vermerkt habe Luther dort die Lebensdaten der Heiligen Elisabeth, dem Vorbild der Armenfürsorge. Dadurch werde deutlich, dass es der Heiligen-Kult und „nicht der hohe Respekt für die als Heilige verehrten Personen" war, den Luther ablehnte. Luther sei es gelungen, das „Religiöse in das Denken seiner Zeit“ hineinzutragen. Beim Reformationsjubiläum 2017 müsse es deswegen nicht um „ergriffene Total-Rekonstruktion reformatorischer Theologie mit all ihren Fragwürdigkeiten“ gehen, sondern darum, „wie der christliche Glaube in den gegenwärtigen Modernisierungsprozess hinein zu tragen ist“.
Lebensrettende Kraft des Kreuzes
Auch die zweite Notiz Luthers lasse „reizvolle Interpretationen“ zu. Der Verweis auf den italienischen Humanisten Baptista Mantuanus ist für Kamann ein Indiz für die spätere Kreuzestheologie des Reformators, dem es auf die lebensrettende Kraft des Glaubens ankam. Wo Mantuanus das lateinische Wort fides (deutsch: Glaube) verwendete, habe Luther die Bibelstelle aus Römer 3,21 ergänzt: „Der Gerechte lebt aus Glauben“ – einer Schlüsselstelle der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Für Luther bedeutete dies später den Abschied von der peinigenden Leistungs-, hin zur eigenverantwortlichen Glaubensfrömmigkeit.
Kamann bilanziert aufgrund der Funde in Wolfenbüttel, dass das „religiös Inspirierende in den damaligen Gedankengebäuden bereitlag, man musste es nur ergreifen und zu kreativem Bauen verwenden“. Ohne den „unfassbaren Fanatismus“ der damaligen Zeit hätte sich die Situation auch „ohne Spalterei innovativ diskutieren lassen“. 2017 müsse es aus seiner Sicht um einen „kreativen Umgang mit dem religiös Bereitliegenden“ gehen: „Es wäre höchst ärgerlich, wenn statt der offenen Debatte eine neuerliche Abgrenzerei nicht nur zwischen Katholiken und Protestanten, sondern, durchaus denkbar, auch zwischen evangelischen Urkundenhütern und den Verfassern von Randnotizen einrisse.“ (pro)