„Esoterische Vorstellungen gelten zunehmend als normal“, zitiert die Zeit den Münsteraner Soziologen Detlef Pollack. Sie breiteten sich im Alltag ebenso aus wie in der Wissenschaft und Medizin. Das zeigten auch die Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus). Jeder fünfte Deutsche glaubt demnach an Geister, mehr als jeder vierte an eine Wiedergeburt. 40 Prozent der Bevölkerung haben Erfahrungen mit Homöopathie und Bachblütentherapie gemacht. Nahezu jede zehnte Sachbuch-Neuerscheinung falle in die Sparte Esoterik. Nach wissenschaftlichen Maßstäben sei Deutschland „nicht mehr ganz dicht“, schreibt die Zeit. Doch so denke womöglich bald nur noch eine Minderheit. Eine „stille spirituelle Revolution“ breite sich in Europa aus. Sie verändere Weltbilder mehr, als es je in früheren Missionsphasen der Fall gewesen sei, sagte die Okkultismusforscherin Sabine Doering-Manteuffel der Zeitung.
Besonders Menschen, die in Städten und in den alten Bundesländern leben, Abiturienten, religiös Interessierte und Frauen wendeten sich esoterischen Angeboten zu. Viele Menschen hätten das Gefühl, in einer wissenschaftlich dominierten Welt festzustecken, so die Erklärung des Religionssoziologen Christoph Bochinger. Es gebe ein starkes Bedürfnis, sich Elemente für das eigene Weltbild zusammenzusuchen und danach zu handeln. So gleiche Esoterik einem Supermarkt mit dem gesammelten Fundus der Religionen, schreibt die Zeit weiter. Ursprünglich habe der Begriff „Esoterik“ für eine Lehre gestanden, die nur einem begrenzten Kreis von Menschen zugänglich, aber nicht öffentlich war. Erst später seien damit okkulte und magische Praktiken bezeichnet worden. Esoterik habe wissenschaftlichem Denken nicht widersprochen, sondern sei nur ein anderer Weg zur Erkenntnis gewesen. Auch Newton, Galilei oder Kepler hätten die Welt sowohl rational als auch esoterisch betrachtet. Erst die Aufklärung habe diese Einheit auseinander gerissen.
Abschied von der Nächstenliebe
Heute gehe es nicht mehr um die Frage danach, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sondern um das eigene Ego: „Esoterik ersetzt das Erlösungsversprechen der Religion durch das Versprechen der Selbsterlösung. Denn trostbedürftig sind wir noch immer“, heißt es in der Zeit. Der Rostocker Theologe Thomas Klie sieht in der Esoterik eine Mischung aus Religiosität, Spiritualität und Wellness. Den Glauben an ein höheres, gestaltendes Prinzip teilten Esoteriker mit Christen. Nur dass erstere es nicht ertragen könnten, nicht über alle Bereiche des Daseins selbst bestimmen zu können. Der Esoteriker erschaffe sich selbst, der esoterische Markt setze ihm keine Grenzen, gibt die Zeit den Theologie-Professor wieder. Die selbst gemixten „Glaubenscocktails“ dienten nur dem eigenen Ego und verpflichteten zu nichts.
Die Suche nach dem Selbst sei ein Rückzug aus der Gesellschaft, um das „eigentliche Ich“ zu verteidigen. Esoteriker zögen sich lieber in ihr Paradies auf Erden zurück, anstatt die Welt zu verändern. Die Hilfsangebote auf dem Weg zum „erleuchteten Menschen“ – wie professionelle Engel, Medien und Jenseitscoaches – zielten auf den Narzissmus des Einzelnen. Ist solche Unvernunft nicht Privatsache?, fragt die Zeit. „Wenn all unser Denken nur noch um uns selber kreist, wenn das individuelle Wohlergehen zur höchsten Vernunft wird, verabschieden wir uns von der Verantwortung füreinander – und von der Nächstenliebe auch.“ Dann bestünde unsere Gesellschaft nur noch aus „mehr oder minder verrückten Egos“. (pro)