Re:publica: Netz-Friedhöfe, Muslim-Blogs und ein Abendmahl

Sie steht für digitale Avantgarde, für Netztrends und ein ganzes Lebensgefühl: Am Montag hat in Berlin die 13. Netz-Konferenz re:publica begonnen. pro hat zwischen Nerds, Hipstern, Netzpolitik und Netiquette Menschen entdeckt, die im World Wide Web auf Sinnsuche gehen.

Von PRO

Schon die langen Menschenschlangen am Einlass zum bekannten Netztreffen re:publica verraten: Die Konferenz ist nicht nur die größte ihrer Art – sie ist auch die hipste. Lange vorbei sind die Zeiten langhaariger und übergewichtiger Nerds, die die Sonne nur dann sehen, wenn der Tiefkühlpizza-Vorrat im Kühlschrank aufgebraucht ist. Blogger, Twitterer und Facebooker sind die Mitte der Gesellschaft geworden. In Berlin tragen sie am Montag zum Auftakt der dreitägigen Veranstaltung Chino-Hosen und bunt gemusterte Chiffon-Kleider, Highheels und Vans, Ray-Ban-Brillen und einen Club Mate in der Hand – und natürlich wahlweise Laptop, Smartphone oder Tablet-PC in der anderen. Re:publica-Besucher trinken Bio-Bier und rauchen selbst-gedrehte Zigaretten mit Gizeh-Filter, die es auch vor Ort zu kaufen gibt. Doch auch Familien sind angereist: Mütter schieben Kinderwagen durch die Menschenmassen, andere Frauen tragen dicke Babybäuche vor sich her, während der dazugehörige Mann in eine Bratwurst mit Senf beißt. Das echte Leben geht einher mit dem im Netz.

Auf der re:publica mit ihren rund 5.000 Besuchern und 450 Sprechern gibt es erwartungsgemäß allerhand Veranstaltungen, deren Titel dem Normalbürger Rätsel aufgeben: „Semiotik für Nerds” etwa oder „openPlanB – Stufe 2”. Doch in Berlin geht es auch um Dinge, die jeder versteht. Da spricht etwa der Blogger und Buchautor Johnny Häusler („Netzgemüse”, „Spreeblick”) mit Youtube-Sternchen wie LeFloyd – stilecht mit tätowiertem Stern auf dem Ellenbogen und schief aufgesetztem Basecap – oder Amy Herzstark – mit weiß-schwarz gemustertem Kopftuch im in der Stirn zur Tolle frisierten roten Haar – darüber, wie Erfolg in Zeiten des Web 2.0 funktioniert und ob man damit eigentlich Geld verdienen kann. Hier zeigen sich dann auch erste Generationenkonflikte: Erst vor einigen Monaten forderten Politiker, etwa Innenminister Hans-Peter Friedrich, einen Zwang für Klar-Namen im Netz. Den Profi-Youtubern hingegen ist es völlig egal, ob die Kommentare unter ihren teilweise zehntausende Male angeschauten Videos unter echtem Namen oder Pseudonym verfasst werden. Auf den Inhalt der Posts komme es an, nicht auf die Identität des Verfassers. „Treffen wir im echten Leben sowieso nicht”, erklärt Simon W. alias „ungespielt”. Fernsehen habe er übrigens seit Jahren nicht mehr geschaut. „Nicht meine Welt, bei Youtube kann ich sehen was ich will, wann ich will”, sagt er. Auch das dürften die meisten Menschen ab, sagen wir, 50 aufwärts anders sehen.

Das digitale Sterben

Um nichts geringeres als den Tod geht es in einem Vortrag der Bloggerin Elisabeth Rank. „Bis dass der Tod uns scheidet – Soziale Medien und der Umgang mit dem Sterben” ist ihr Thema und der Zuhörerraum überfüllt. „Wir gucken dabei zu, wenn neue Menschen auf die Welt kommen, aber wir sehen nicht, wenn sie weggehen”, sagt sie. Über Tod rede man nicht in der Öffentlichkeit, auch jenseits des Netzes. Doch ausgerechnet das eigentlich als so unverbindlich wahrgenommene Internet biete neue Möglichkeiten der Trauerbewältigung. So habe jüngst etwa ein Blogger unter dem Titel „The battle we didn’t choose” das Krebsleiden seiner Frau in einer Fotoserie öffentlich dokumentiert. Die Facebook-Profile Verstorbener würden als „Ort aktiver Trauerarbeit” genutzt, wo sich Hinterbliebene austauschten. „Es ist viel anstrengender, auf eine Beerdigung zu gehen, oder die Familie eines Verstorbenen anzurufen, als zu Hause im eigenen Zimmer Fotos anzuschauen oder etwas ins Netz zu posten”, sagt Rank.

Facebook biete Hinterbliebenen zudem die Möglichkeit, das Profil eines Toten mit ihrem zu verbinden und so mitzuentscheiden, wann der Freund oder das Familienmitglied auch digital sterbe. Diese Entwicklung zeige sich auch wirtschaftlich: Mittlerweile hätten sich Unternehmen gegründet, die Erinnerungsprofile für Verstorbene erstellten oder Menschen digital bestatteten, also deren Netz-Nachlass verwalteten. Netznutzer müssten sich fragen: „Was liegt in meiner Dropbox und wer soll das haben?” Antworten auf letzte Fragen bieten hier weder die Referentin noch die zahlreichen Kommentatoren aus dem Publikum. Aber eines wird klar. Sogar der Tod ist digital geworden.

Muslime im Netz

Stine Eckert, Doktorandin an der Universität Maryland, gibt zwei Räume weiter Auskunft über die muslimische Gegenöffentlichkeit im Netz. Für eine Studie hat sie 28 muslimische Blogger in Deutschland befragt. Diese hatten erklärt, sich vor allem in den Medien oft abgestempelt zu fühlen. Deren Berichterstattung beschränke sich meist auf Konflikte – auch im Bezug auf den Islam. Die Mehrheit der Nicht-Muslime habe zu Muslimen in Deutschland aber maximal an der Dönerbude Kontakt. Deshalb versuchten muslimische Blogger, mit der nicht-muslimischen Öffentlichkeit in Verbindung zu treten und eine Gegenöffentlichkeit zu erzeugen oder stereotype Sichtweisen zu korrigieren.

Die Studie beobachte ein „Auftauen” der Medien gegenüber den Muslimen. Einige der Blogger seien angefragt worden, in traditionellen Medien als Kommentatoren oder Kolumnisten aufzutreten oder würden sogar darüber hinaus für Vorträge gebucht. „Dieses Beispiel zeigt, dass demokratisches Potential durch das Netz erreicht werden kann”, sagt Eckert. Eine Gruppe, die eigentlich keine Stimme in den Medien habe, sei durch Blogs hörbar geworden. Nun müsse sich die Gesellschaft fragen: „Welche anderen benachteiligten Gruppen können neue Medien nutzen und auf welchem Wege?”

Vom „Twittergott” berührt

Im sonnigen Innenhof erhebt sich über die Köpfe der Besucher, die am „Fritz-Cola”-Stand anstehen, ein irgendwie selbstgebastelt aussehendes Fluggerät. Vier mechanische Arme mit vier Rotoren halten das Ufo-ähnliche Ding in der Luft, hinterher spaziert ein Herr mit Fernbedienung in der Hand. Wenige Meter weiter setzt eine Frau um die 30 eine überdimensionale Sonnenbrille auf die Nase. Die Gläser sind verdächtig dick, sicher verbirgt sich auch darin eine Erfindung à la Google Glass, der Mulitmedia-Brille, die der Megakonzern Ende 2013 auf den Markt bringen will.

Es ist Abend geworden und auf „Stage 3” nehmen Blogger, Twitterer und sonstige Netzaktive „das heilige Abendmahl” ein. Das ist eine Mischung aus Theaterstück und Debattenrunde. Auf der Bühne haben drei Männer und zwei Frauen Platz genommen. Auf dem Kopf tragen sie wahlweise Plüsch-Heiligenscheine oder leuchtende Teufelshörnchen. Bei Wein und Trauben erzählen sie, wie sie denn eigentlich zu Twitter und Co. gekommen sind. Klingt nach Bekehrungsgeschichten. Schließlich stellt sich „Jesus West” vor, der vom „Twittergott” berührt worden ist, wie er sagt. Zur Feier des Abends gibt es schließlich noch Hostien. Nebenan schimpft Blog-Star Sascha Lobo auf Angela Merkel. Netz-Freaks auf komödiantischer Sinnsuche, das braucht kein Mensch. Ein jährliches Treffen mehr oder weniger verrückter Netzavantgardisten an sich schadet aber gewiss nicht. (pro)

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