Am Anfang des Stücks steht das Leid. Düster gekleidete Gestalten kauern in Armeedecken gehüllt auf braunen Holzstühlen. Die fahlen Gesichter sind gen Himmel gerichtet, rotgeränderte Augen blicken ins Nichts. Körperhaltung und Gesichtsausdruck sind ein einziges Winseln nach Gnade: „Wo ist unser Gott? Verstoß uns nicht! Hör unser Flehen!” Was auf den ersten Blick wie eine Szene aus einem Konzentrationslager wirkt, entpuppt sich rasch als etwas anderes. Ein Familienbetrieb liegt brach. Der Hof leidet unter Wassermangel, der Familienbesitz droht zu Grunde zu gehen und mit ihm alle Bewohner. Heugabeln stehen am hinteren Ende der Bühne aufgereiht, Bilder von groben Steinbrocken, kahlen Bäumen und Heu werden wechselnd an die Wand hinter der Bühne projiziert.
Trostlosigkeit, Gottverlassenheit dominiert die ersten Bilder der Oper „Vom Ende der Unschuld”, komponiert von Stephan Pfeiffer, in Szene gesetzt von Kirsten Harms. Das Libretto stammt aus den Federn von Theresita Colloredo und David Gravenhorst. Die Geschichte erzählt den Widerstandskampf Dietrich Bonhoeffers in einer Parabel. Der Hof steht für das Deutsche Reich im Wirtschaftstief nach dem Ersten Weltkrieg. Die junge Germa (Julia Henning) soll den Betrieb schon bald von ihrer Mutter Angatha (Schirin Partowi) übernehmen, fürchtet sich aber vor der Verantwortung. Einzig ihr Bruder Heman (Ferdinand von Bothmer) macht ihr Mut und dient ihr in seiner tiefen Gottesgläubigkeit als moralische Stütze und Leitfigur. Doch eines Tages kommt der entfernte Verwandte Drako (Krzysztof Szumanski) auf den Hof. Mit Hilfe eines Staudamms will er den Anwohnern zu neuem Wohlstand verhelfen. Die bis dahin mutlosen Bürger sind schnell Feuer und Flamme und auch Germa wittert nicht nur Reichtum – sie ist auch beeindruckt von der Stärke des neuen Mitstreiters. Einzig Heman erkennt die Unmenschlichkeit des Vorhabens: Der Damm würde allen Nachbarn das Wasser abgraben.
Teufel statt Gott
Bei einem Abendessen neun Monate später, das nicht zufällig wie das biblische letzte Abendmal in Szene gesetzt ist, kommt es zum Eklat zwischen den beiden Männern. Um eine lange weiße Tafel versammelt, wollen Hofbewohner und Familie das Abendessen einnehmen. Der Tisch ist mit Emaille-Schüsseln und großen Blechtöpfen gedeckt, der ganze Hof ist versammelt. Vor der Tür stehen die Maschinen zum Bau des Staudammes schon bereit. Angatha bittet Drako, neben ihr Platz zu nehmen, er ist in die Familie aufgenommen, bereit, die Tochter Germa zu heiraten. „Heman, sprich das Tischgebet”, bittet die Mutter. Der setzt an, kommt aber nicht weit. „Gottes Liebe, Gottes Wille lenke unser Tun. Bis in seines Reiche Fülle wir….” Da unterbricht Drako harsch, steht auf und hebt sein Glas: „Auf den Staudamm, auf die Zukunft!” Die Musik schwillt an, der Chor singt enthusiastisch, die Hofbewohner haben ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden. Nicht in Gott, sondern im teuflischen Plan des Neulings.
So entwickelt sich im Laufe des Stücks ein Szenario, das die eigentlich nur nach Glück strebenden Bürger mehr und mehr im autoritären Regime Drakos einhüllt. Einmal durch die Heirat mit Germa zum Oberhaupt geworden, erlässt er immer neue Gesetze, lässt Unfolgsame hart bestrafen. Als die bis dato zart wirkende Germa das nächste Mal auf die Bühne tritt, trägt sie nicht nur eine Waffe. Die schwarzen Reiterhosen, ihr dunkler Blazer und eine kleine Peitsche in ihrer Hand, erinnern an die Kleidung von NS-Soldaten. In einer weiteren Szene ergreifen die Hofbewohner die Heugabeln am hinteren Ende der Bühne, richten sie gen Himmel und marschieren damit zu beißender Marschmusik und zu Ehre Drakos auf.
Es ist dieses gekonnte Bilderspiel, das „Vom Ende der Unschuld” zu einer besonderen Oper macht. Kirsten Harms, einst Intendantin an der Deutschen Oper in Berlin, inszeniert NS-Beklemmung auf einem Bauernhof und das mit äußerst reduziertem Bühnenbild. Vor der schwarzen Kulisse des Hamburger Industriegebäudes Kampnagel kommt selbst die kleinste Requisite zur Geltung. Interessant ist auch: Das komplette Orchester, die Hamburger Camerata und The Young Class X, spielt in Ermangelung eines Grabens auf der Bühne. Auch Stephan Pfeiffers Komposition trägt. Vor allem die immer wieder zum Marsch anschwellende Musik lässt Kriegsszenarien entstehen. So kann man wohl sagen: Harms und Pfeiffer, das ergänzt sich gut und es tröstet über die zuweilen ermüdende Geschichte hinweg. Vorgabe war das Leben Bonhoeffers und daran orientiert sich die Oper ohne Wenn und Aber. Das lässt jene Zuschauer, die sich zumindest grob mit dem Leben des wohl bekanntesten christlichen NS-Widerständlers auseinandergesetzt haben, rasch den Plot des über zweistündigen Stücks erahnen.
Dem Kirchentagspräsidenten Gerhard Robbers war die Oper „Vom Ende der Unschuld” ein persönliches Anliegen. Er wünschte sich eine solche Inszenierung, nannte das bisher einmalige Vorhaben aber auch ein Wagnis. Nun ist klar: Große Kunst auf dem Kirchentag kann funktionieren und kommt auch bei einem Publikum an, das möglicherweise nicht den typischen Operngästen entspricht. (pro)