Ist die Kerze, die jemand anzündet, um Trauer zu signalisieren, „echter“ als eine virtuelle im Internet? Nein, waren sich die Teilnehmer der Tagung in Hofgeismar einig. Die Konferenz befasste sich mit den theologischen Dimensionen der Social Media. Beide Kerzen erfüllen ihren Zweck. Manche Menschen ziehen lediglich die eine Form vor, während sie sich mit der anderen oft nicht identifizieren können. Kirchen können sich dies zunutze machen und ihre Botschaft in verschiedenen Formen artikulieren – in den alten und gewohnten genauso wie in den neuen, die sich durch Social Media bieten.
Glaubensstandpunkte aushandeln
„Das eine zu tun heißt nicht, das andere zu lassen“, brachte Kristin Merle diese Erkenntnis auf den Punkt. Die Tübinger Theologin betonte in ihrem Vortrag, dass Social Media keine oberflächliche Angelegenheit sei. Es gebe in virtuellen Räumen ernsthafte Diskussionen über Glück, Menschenwürde und den Glauben. Und manch einer findet in den virtuellen Glaubensforen sogar eine Alternative zu seiner Kirchengemeinde, in der er oft nur passiver Zuhörer ist.
„Für die Organisationsstruktur der Kirche wird es eine Herausforderung sein“, betonte Merle. Soziale Medien sorgten dafür, dass sich Menschen dezentral ihre religiösen Standpunkte erarbeiten, was wünschenswert sei. Dies bedeute für die Kirche, dass religiöse Ansichten mehr und mehr ausgehandelt würden. Der alte Verkündigungsmodus der Institution, nach dem die Predigt auf der einen, die Gemeinde auf der anderen sei, verschwinde immer mehr.
Blogs für die Sinnfrage
Dass Social Media tatsächlich religionsähnliche Funktionen einnehmen können, verdeutlichte Ilona Nord, Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg: Anhand des Blogs der krebskranken und 2009 im Alter von 17 Jahren verstorbenen Norwegerin Regine Stokke zeigte sie, wie Einträge im persönlich-öffentlichen Tagebuch und die Reaktionen des Publikums darauf Sinn fördern. Die Einträge seien zwar nie explizit religiös gewesen, nehmen aber immer wieder Bezug auf die Bibel: „Biblische Texte wirken wie ein vorgegebener Kommunikationsraum.“
Blogs eröffneten einen „Spielraum der Freiheit“, betonte Nord, in dem User ausdrückten und ausloteten, was ihnen im Leben wichtig sei. Auf diese Weise dienten sie dazu, die eigene Persönlichkeit zu stärken und sich religiös zu sozialisieren. Nord sprach sich dafür aus, dass sich Kirchen eher und stärker in diesen Austausch einbringen als bisher. Dazu sei jedoch „dringlicher denn je ein Wandel in der Kommunikationskultur“ nötig: Die Sprache der Kirche müsse auf jede eingeübte Formelhaftigkeit verzichten, um Gehör zu finden.
Einsteigen mit kritischem Blick
Kirchen müssten sich im Web 2.0 engagieren, dabei jedoch einen kritischen Blick bewahren, erklärte Ingo Reuter, Religionspädagoge an der Universität Paderborn. Facebook sei etwa mit den Möglichkeiten zur Selbstrepräsentation eine Chance, Wertschätzung und Anerkennung zu erhalten. Doch viele fragten nicht nach dem Wahrheitsgehalt der „Bilder heiteren Lebens“ und bezögen sie auf das ganze Leben der Person. Pädagogen in Kirche und Schule müssten diese gemeinsam mit den Kindern kritisch hinterfragen. „Wenn das Evangelium Lösung von destruktiven Fixierungen bedeutet, dann müssen die Zwänge zur Selbstdarstellung und die Macht der Bilder reflektiert werden.“
Verantwortliche in Kirchen und Schulen forderte er auf, Social Media vorurteilsfrei wahrzunehmen. Anstatt diese abzuwerten, wie es viele täten, komme es darauf an, die neuen Formen der Kommunikation zu erproben. Sie böten gute Möglichkeiten der Alltagsseelsorge, denn Schüler brächten hier ihre Sorgen zum Ausdruck und interessierten sich für die Einschätzung eines Erwachsenen.
Einsteigen mit Strategie
Für Kirchen, die im Bereich Social Media agieren, empfahl Daniel Michaelis, Markting-Professor an der Universität Anhalt, die vier Aspekte der POST-Methode zu beachten: Kirchen müssen sich klar machen, welche Menschen sie erreichen möchten (P für People). Wichtig ist es dann, Ziele festzulegen: Was wollen Kirchen in den Social Media Bewirken (O für Objectives). Wenn das geklärt ist, geht es um die Strategie: Wie lange soll eine Kampagne dauern? Wie soll die Beziehung zu der Zielgruppe in fünf Jahren aussehen? Wie groß soll sie sein? Erst dann gehe es um die Frage, welche Technologie dafür geeignet ist. (pro)