Dabei verweist Claudia Becker auf den Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther. Er habe in seinen jüngsten Forschungen bemängelt, dass Eltern ihren "überbehüteten Kleinen jedes Problem aus dem Weg räumen". Diese hätten kaum die Chance, "sich selbst auszuprobieren, sich auszutoben und etwas zu riskieren". Kinder, argumentiert Hüther, erlebten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Phase, in der sie nicht mehr wirklich gebraucht werden. Deswegen müssten sie Aufgaben bekommen, an denen sie wachsen können.
Aus Beckers Sicht verrät die hohe Anzahl der Diagnosen aber auch etwas über die Art, wie Eltern und Lehrer Kinder empfinden – als so verhaltensauffällig, dass das Zusammenleben mit ihnen unerträglich zu werden droht. Man müsse sich aber auch fragen, ob nicht nur Kinder, sondern auch Lehrer und Eltern, gewisse Grenzen überschreiten. Viele erwarteten von ihren Sprösslingen lediglich, dass sie funktionieren.
Langzeitfolgen unbekannt
Vor allem Jungen würden mit Psychopharmaka wie Ritalin behandelt. Damit würden diese künstlich ruhig gestellt, oft ohne die Langzeitfolgen des Medikaments zu kennen. Die Behandlung mit Medikamenten dürfe aber auf Dauer nicht die Lösung sein. Die Aufmerksamkeitsstörung ADHS müsse uns vielmehr dazu veranlassen, Kindern das zu schenken, was sie brauchen: Aufmerksamkeit von klein auf.
Becker nennt Kleinigkeiten, die Eltern tun können. Dazu gehört das Vorlesen einer Geschichte, statt dem Gang ins Kino sowie Kindern beim Spaziergang Zeit zu lassen, statt sie zu gängeln: "Kinder brauchen die Möglichkeit, in Ruhe ihre Sinne zu entfalten und zu pflegen." Ein schulischer Lehrplan mit Werken, Kunst und Handarbeiten gehöre ebenso dazu, wie bewusst gekochte Mahlzeiten, die gemeinsam gegessen werden. Kinder müssten gefördert und gefordert werden, ohne ihre Reife zu erzwingen. Becker plädiert für Phasen, "in denen sie einfach mal nichts machen, außer über Gräben zu springen, Wind zu spüren und Erde zu riechen. Es gibt keine kreativeren Momente als die der Stille." Die Gesellschaft gönne Kindern und sich selbst viel zu wenig. Wie können wir dann von Jugendlichen erwarten, dass sie immer schön ruhig bleiben?", fragt Becker am Ende ihres Essays. (pro)