Arbeitgeber müssen in Zukunft genau prüfen, ob sie ihren Mitarbeitern verbieten dürfen, religiöse Symbole zu tragen. Die Richter in Straßburg urteilten, dass der Arbeitgeber die Religionsfreiheit einer Angestellten der Fluggesellschaft "British Airways" verletzt habe. Nicht verletzt worden sei dagegen die Religionsfreiheit einer Krankenschwester. Die zwei Klägerinnen hatten darauf bestanden, ihre Kreuze sichtbar zu tragen. Die Richter wiesen die Klagen einer Standesbeamtin und eines Sexualtherapeuten ab. Gegen das Urteil können die Kläger Berufung einlegen.
Die Kläger sind vier britische Staatsbürger. Sie fühlten sich in ihrem Recht der Ausübung ihres christlichen Glaubens eingeschränkt. Nadia Eweida arbeitete seit 1999 beim Bodenpersonal der Fluggesellschaft "British Airways". Die Kleidungsvorschrift des Unternehmens sieht vor, dass religiöse Symbole abgelegt oder unter der Uniform getragen werden müssen. Eweida trug jedoch ein kleines Kreuz an einer Kette um den Hals. Um ihren christlichen Glauben offen zu bezeugen, trug sie das Kreuz über der Uniform. Im September 2006 wurde ihr gekündigt. Fünf Monate später kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück, nachdem "British Arways" die Kleidungsordnung geändert hatte. Mit einer Mehrheit von fünf zu zwei Stimmen entschieden die Richter, dass ein Verstoß gegen Artikel 9 der Europäischen Menschenrechte (Freiheit der Religionsausübung) vorliegt. Eine Mehrheit von fünf Richtern entschied, dass der britische Staat Eweida innerhalb von drei Monaten nach dem endgültigen Urteil 2.000 Euro Entschädigung zahlen muss.
"Ich bin sehr glücklich und froh darüber, dass die christlichen Rechte in Großbritannien und Europa verteidigt worden sind", sagte die Angestellte der Fluggesellschaft in London laut einem Bericht der Deutschen Presseagentur (dpa). Damit werde klargestellt, dass Christen sich nicht schämen müssten, zu ihrem Glauben zu stehen. Auch der britische Premierminister David Cameron begrüßte das Urteil. "Ich freue mich, dass der Grundsatz, bei der Arbeit religiöse Symbole tragen zu dürfen, aufrechterhalten wurde", teilte er über den Internetdienst Twitter mit. Niemand dürfe wegen seiner religiösen Überzeugungen diskriminiert werden.
Anders entschieden die Richter im Fall von Krankenschwester Shirley Chaplin. Sie hatte sich geweigert, ihr Kreuz abzulegen – obwohl ihr Arbeitgeber, der "Royal Devon and Exeter Hospitals NHS Trust", es ihr verboten hatte. Durch das Kreuzverbot fühlt sie sich daran gehindert, ihren Glauben auszudrücken. Die Kleidungsregeln der Klinik verbieten es Krankenschwestern und Ärzten, Ketten zu tragen, weil Patienten daran zerren und das Personal so verletzen könnten. Die Richter sehen in der Regel keine Verletzung der Religionsfreiheit: Weil die Schwester alte Menschen pflege, sei der Schutz der Gesundheit der Patienten vorrangig, ebenso wie die Sicherheit im Krankenhaus, befand der EGMR. Die Patienten könnten sich bei unbedachten Bewegungen an der Kette verletzen.
Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Standesamt
Lillian Ladele arbeitete zwischen 1992 und 2009 bei dem Standesamt des Londoner Stadtteils Islington. Als das Gesetz über gleichgeschlechtliche Partnerschaften 2005 in Kraft trat, wurde Ladele darüber informiert, dass sie von nun an auch homosexuelle Paare trauen müsse. Ladele weigerte sich, einen entsprechenden Vertrag zu unterzeichnen, woraufhin ihr mit der Kündigung gedroht wurde.
Auch Gary McFarlane, der als Sexualtheraput bei der Beratungsstelle "Relate" arbeitete, sah sich im Konflikt zwischen seinen religiösen Überzeugungen und den Anfragen, auch homosexuelle Paare zu beraten. Im Jahr 2008 wurde ihm gekündigt. Einstimmig entschieden die Richter, dass wie im Falle von Chaplin bei McFarlane kein Verstoß gegen Artikel 9 vorliege. Mit fünf zu zwei Stimmen sahen sie keinen Verstoß gegen Artikel 14 (Verbot von Diskriminierung) im Falle von Ladele.
Das Urteil ist nicht endgültig. In den kommenden drei Monaten können alle Parteien ihre Fälle erneut vor die Große Kammer des Gerichtshofes bringen. Dann urteilen fünf Richter darüber, ob die Fälle neu verhandelt werden müssen. Sollte das der Fall sein, spricht die Kammer ein endgültiges Urteil.
Ethiker nicht überrascht
Der Theologe Thomas Schirrmacher, Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz, zeigte sich gegenüber pro nicht überrascht von den Urteilen. Es hätte ihn gewundert, wenn eine Christin bei "British Airways" kein Kreuz umhängen, ein Sikh aber seinen deutlich auffälligeren Turban auf dem Kopf tragen dürfte. "Derartige Klagen sind eher typisch für England. Die Stimmung dort ist eher auf einen Kulturkampf ausgerichtet als bei uns. Wer als Christ etwa in England Homosexualität als Sünde bezeichnet, wird angegriffen, während Muslime, die das noch viel häufiger tun, in Ruhe gelassen werden." Schirrmacher erklärte, im Vergleich dazu hätte die deutsche Lufthansa wahrscheinlich davon abgesehen, den Fall so aufzubauschen, allein aus Imagegründen.
Über den Fall der Krankenschwester sagte Schirrmacher, die eigentliche Menschenrechtsfrage sei hier nicht geklärt worden. Er hält jedoch fest, dass der EGMR das grundsätzliche Recht auf Religionsausübung auch für ein Krankenhaus festgestellt hat. Dass es sinnvoll sein könne, dem dortigen Personal aus Sicherheitsgründen den Schmuck während der Arbeitszeit zu verbieten, will der Ethik-Experte nicht ausschließen. Zum Fall der Standesbeamtin und des Sexualtherapeuten sagte Schirrmacher: "Die Rechtslage wäre bei uns auch nicht anders. Wenn jemand aus religiösen Gründen so große Probleme damit hat, die Dienstanweisungen seines Arbeitgebers zu befolgen, sollte man ihm wohl am ehesten raten, den Arbeitsplatz zu wechseln oder sich innerhalb der Behörde versetzen zu lassen."
Grüne begrüßen Urteil – FDP geht es nicht weit genug
Der religionspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Josef Winkler, begrüßte das Urteil gegenüber pro: Der Gerichtshof habe differenziert Recht gesprochen. "Für konsequent halte ich auch die Ablehnung des Ansinnens, aus religiösen Gründen bestimmte Berufsanforderungen nicht erbringen zu müssen, wie im Falle der Standesbeamtin und des Sexualtherapeuten, weil es zum Wesen der beiden Berufe gehört, gegebenenfalls auch gleichgeschlechtliche Paare zu beraten oder zu trauen. Wenn die Kläger einen Gewissenskonflikt plausibel machen können, ist das mildere Mittel aus meiner Sicht eine Versetzung in einen anderen Tätigkeitsbereich", erklärte Winkler. Dass das Tragen eines Kreuzes am Arbeitsplatz erlaubt sei, "stärkt die Religionsfreiheit und auch die Freiheit, sein religiöses Bekenntnis sichtbar zum Ausdruck zu bringen".
Der Sprecher für Menschenrechtspolitik der Grünen-Fraktion, Volker Beck, teilte mit: "Der EGMR hat heute sehr ausgewogen und richtig geurteilt. Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut und wird zu Recht in allen Grund- und Menschenrechtskatalogen ausdrücklich geschützt. Es war daher menschenrechtswidrig, dass die Mitarbeiterin von British Airways an der Ausübung ihrer Religionsfreiheit gehindert wurde." Im Bezug auf die Klagen der Standesbeamtin und des Therapeuten erklärte er: "Niemand hat das Recht, seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Gleichbehandlung zu versagen. Es ist gut, dass der Gerichtshof in Straßburg erneut ein Zeichen gegen Homophobie gesetzt hat."
Für den religionspolitischen Sprecher der FDP-Fraktion, Stefan Ruppert, ist klar: Glaubensfreiheit hat Vorrang vor korporativer Identität und Firmenimage. "Gleichzeitig darf Religionsfreiheit nicht zur Rechtfertigung für Diskriminierung, etwa von Homosexuellen werden." Nicht plausibel sei hingegen die Begründung der Entscheidung gegen das Tragen eines Kreuzes durch eine Krankenschwester – auch im Krankenhaus bleibe das Recht auf Glaubensbekundung unverletzlich.
Kirchen: nachvollziehbar und erfreulich
Auch die Kirchen begrüßten das Urteil in einer ersten Reaktion. Der Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Prälat Bernhard Felmberg, erklärte gegenüber pro: "Es ist erfreulich, dass der EGMR den Schutzbereich der Religionsfreiheit weit auslegt und feststellt, dass die Menschenrechtskonvention und damit die Religionsfreiheit auch am Arbeitsplatz zur Geltung kommen muss. So ist es zu begrüßen, dass der Fall der British Airways Angestellten zu ihren Gunsten entschieden worden ist und sie ihren christlichen Glauben durch das Tragen des Kreuzes öffentlich bekunden kann."
Der Leiter des Katholischen Büros und damit ebenso wie Felmberg Vertreter seiner Kirche in Berlin, Prälat Karl Jüsten, teilte auf Anfrage mit, er begrüße es, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den konkreten Fällen den Schutzbereich der Religionsfreiheit angemessen weit ausgelegt habe. Nachvollziehbar sei auch, dass nur einer von vieren mit seiner Klage Erfolg hatte. "Von übergeordneter Bedeutung erscheint mir allerdings der Umstand, dass der Gerichtshof hier den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention respektiert. Gerade im Bereich der Religionsfreiheit ist es besonders wichtig, die Traditionen der einzelnen Staaten zu achten." (pro)