Wenn Maria und Josef klingeln

Journalisten – verkleidet als ein obdachsuchendes Pärchen – machen den vorweihnachtlichen Test: Wer ist barmherzig und bietet ihnen eine Herberge? In Beiträgen der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" und bei "Stern TV" klopfen die Reporter an Türen von Kirchen, Parteien oder besetzten Häusern – mit mitunter erstaunlichen Ergebnissen.
Von PRO

Berlin in den vergangenen Tagen in den Abendstunden: Eine hochschwangere Frau und ihr Partner suchen nach einer Unterkunft, weil ihnen während eines Tagesausflugs sämtliche Papiere, Geld und Tickets geklaut wurden. Das geben zumindest die Redakteure von "Stern TV" vor. Erste Anlaufstelle ist ein Hostel in Berlin-Mitte. Nachdem die Beiden ihre Situation erklärt haben, sagt der Mitarbeiter: "Es tut mir leid, aber ohne Ausweis geht gar nichts." Doch dann stellt er fest: "Ach so, du bist schwanger?" Ein Zimmer könne er ihnen nicht geben, aber er bietet ihnen die Couch im Aufenthaltsraum des Hostels an.

Volkspartei volksfern?

In einem Fünf-Sterne-Hotel wird die Anfrage der Reporter mit versteckter Kamera vom Manager abgewiesen: "Ich darf niemanden hier einchecken lassen, der sich nicht ausweisen kann." Bei der SPD und CDU wird der Schwangeren und ihrem Begleiter auch nicht geholfen. In einem Altersheim riefen die Angestellten die Polizei. Das begründeten sie, weil sie in der Vergangenheit mehrfach überfallen worden waren und an der Diebstahl-Geschichte zweifelten.

Als sie bei einer Kirche klingelten, wurden sie an der Gegensprechanlage mit den Worten abgewiesen: Es gäbe zwar eine Notunterkunft, aber die würde wohl auch nicht nicht das Richtige sein; es sei eine Obdachlosenübernachtung. Auch bei einer Moschee suchten die Beiden nach Unterschlupf. Der Mitarbeiter erwiderte zwar, dass eine Übernachtung nicht möglich ist. Jedoch gab er dem Paar die Telefonnummer und die Adresse einer Frauennotunterkunft sowie fünf Euro für den Bus.

"Maria und Josef in Neukölln"

"Die Zeit" schickte Ende November zwei Reporter nach Berlin-Neukölln. Ihre Geschichte: Sie sind "Nadine und Henning, ein heruntergekommenes Pärchen aus Hamburg" und "seit ein paar Wochen in Berlin, weil es dort billiger sein soll". Die beiden "Zeit"-Reporter waren bereits vergangenes Jahr mit dem gleichen Anliegen unterwegs in den Taunusstädten Königstein und Kronberg. Dort lebten laut Gesellschaft für Konsumforschung die kaufkräftigsten Deutschen. Dieses Jahr sind sie "Maria und Josef in Neukölln". So ist die Reportage überschrieben. Nadine gibt allerdings nicht vor, schwanger zu sein.

In dem Berliner Bezirk erhalten die Obdachlosen viel Unterstützung – Passanten geben ihnen ein bisschen Geld, ein Lokalinhaber gibt ihnen eine Visitenkarte mit den Worten: "Ihr seid immer meine Gäste", eine Verkäuferin einer Bäckerei gibt ihnen Blätterteiggebäck, im Stadtbad dürfen sie sich duschen. In einem Lottoladen kaufen sie sich "zwecks Anpassung" Bier und prompt spricht sie eine Sozialarbeiterin an und rät ihnen, Hartz IV zu beantragen – die Formulare hätte sie direkt im Computer.

"Dieses Projekt ist nicht offen für Externe"

Als sie unterkommen wollen, machen sie sie auf nach Berlin-Mitte zu einem besetzen Haus namens "Köpi 137". Den Tipp hatten sie von einem Radfahrer erhalten. "Entschuldigung, wir sind obdachlos und wollten fragen, ob…", erkundigen sie sich nach einer Unterkunft. Ein Mann mit Irokesenschnitt erwidert: "Dieses Projekt ist nicht offen für Externe. Wir sind da restriktiv." Schließlich kommen Nadine und Henning in der evangelischen Bekenntniskirche in Treptow unter. Die Kirchen in der Hauptstadt betreiben mit dem Berliner Senat und einigen Wohlfahrtsverbänden eine "Kältehilfe". Abwechselnd öffnen die Gemeinden ihre Türen – an jedem Abend an einem anderen Ort. Ihre Frage nach einem Schlafplatz stellten sie laut Reportage auch dem Imam der Sehitlik-Moschee. Er wies sie ab, es sei "unmöglich".

Niedrigerer sozialer Stand – größeres Einfühlungsvermögen

Die Reportage ließt sich wie eine soziologische Erhebung mit der im Artikel zu lesenden Fragestellung: "Was passiert, wenn man sich der Unterschicht mal nicht von oben nähert, sondern von noch weiter unten?" Während ihrer Woche stellten die Redakteure fest: "Arbeit scheint in Neukölln ein knapperes Gut zu sein als ein Essen, eine Dusche, ein Schlafplatz." Am Ende ihres Experiments erhält Nadine sogar das Angebot, in einer Kneipe zu kellnern.

Zur Begründung, warum sie soviel Hilfe in Neukölln erhalten hatten, diente ihnen auch wissenschaftliche Erkenntnisse aus unterschiedlichen Studien der University of California. Das Einfühlungsvermögen von Menschen mit niedrigerem sozialem Stand sei größer. Der Studienleiter Michael Kraus begründet dies laut "Zeit" so: "Personen aus unteren sozialen Schichten sind im Alltag stärker auf Kooperation angewiesen als Menschen aus reichen Haushalten." Da sie selbst Sorgen hätten, "entwickeln sie ein besseres Gespür für Emotionen ihrer Mitmenschen". (pro)

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen