Die "New York Post" zeigte am Dienstag auf ihrem Titelbild ein riesiges Foto dieses Vorfalles. Und löste damit Bestürzung in Amerika aus. "Jemand hat das Foto gemacht. Aber warum hat niemand den Mann von den Gleisen gezogen?", fragte Al Roker, Moderator des Fernsehsenders NBC, wie Zehntausende Amerikaner. Anstatt zu helfen, knipste der 1,75 Meter große R. Umar Abbasi ein Foto von dem Mann, der unmittelbar vor ihm um sein Leben kämpfte. Die "New York Post" kauft sein Foto und titelte dazu: "Dieser Mann stirbt gleich".
Man weiß nicht, was man schlimmer finden soll: Dass jemand seinen Fotoapparat zückt, anstatt seine Hand einem Unfallopfer zu reichen, oder dass eine Tageszeitung den emotionalen Moment ausschlachtet für eine hohe Verkaufszahl. Der Fotograf Umar Abbasi jedenfalls schämt sich nicht. Im Gegenteil, er geht ins Fernsehen und erzählt bereitwillig, wie er an sein tolles Foto kam. In der NBC-Fernsehsendung "Today" sagte er am Mittwoch auf die Frage, warum er denn in der langen Zeitspanne nicht geholfen habe, dass er mit dem Foto-Blitz den Fahrer des herannahenden Zuges habe warnen wollen. Als ob Fotoblitze heutzutage noch irgendeine Aufmerksamkeit erregen würden. Und dann fügt er noch etwas pikiert hinzu: Nach dem Unfall hätten viele herumstehende Menschen Fotos mit ihren Handys von dem Toten gemacht. Vielleicht unfreiwillig legt er dabei die Betonung auf den Toten, so als sei der eigentlich Clou doch, einen noch lebenden Menschen zu fotografieren.
Sophie von Maltzahn hat vor kurzem im Weblog "Ding und Dinglichkeit" der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ihr wachsendes Missbehagen gegenüber den Sozialen Netzwerken im Internet geäußert. "Ein Klick, simsalabim, Sesam öffne und so weiter: Schon nehme ich am Leben meiner Online-Freunde teil", schreibt sie. Wenn man ständig digital und auf Distanz über die "Updates" der virtuellen "Freunde" informiert werde, stumpfe man irgendwann ab. Denn: "Ignoranz wird für mich zum Instrument, um die Informationen herauszufiltern, die mich wirklich interessieren." Facebook habe sie verändert, stellt sie fest. "Haben die nichts besseres zu tun, als von ihren photogeshoppten Profilfotos auf die Welt herab zu grinsen, als blühe um sie herum das pure Glück und sonst nirgends?"
Die "Nähe", die durch Internet-Communities hergestellt wird, gehört dann eben doch in eine Parallelwelt und hat mit der "echten" Welt mit den "echten" Freunden – und echter Anteilnahme – immer weniger zu tun. Wenn der Freund, der Mensch vor mir, zu einer Pixelansammlung schrumpft, zu einem virtuellen "Freund", einem Kontakt im Sozialen Netzwerk oder zu einem Schnappsschuss für meine Pinnwand, ob gerade im Urlaub oder auf den tödlichen Bahngleisen, dann läuft gerade etwas grundsätzlich falsch.