Schirrmacher nannte als Beispiel den Fall einer Witwe aus München, die hinnehmen musste, dass die im Iran lebende Familie ihres verstorbenen Mannes drei Viertel seines Erbes zugesprochen wurde, obwohl in seinem Testament die Ehefrau als Alleinerbin bestimmt worden war. "Es ist nicht dienlich für die Schaffung eines einheitlichen Rechtsbewusstseins, wenn in Deutschland ausländisches Zivilrecht zur Anwendung kommt", erklärte die Islamwissenschaftlerin. Anders als beispielsweise in Großbritannien seien Scharia-Gerichtshöfe in Deutschland jedoch nicht existent.
In Großbritannien hätten 1996 Scharia-Gerichte mit staatlicher Anerkennung den Betrieb aufgenommen. Sie würden unter anderem über Scheidungen und Fälle von häuslicher Gewalt entscheiden. "Das sind inoffizielle, gerichtlich nicht anerkannte Tribunale, denen sich die Beteiligten freiwillig stellen", so Schirrmacher. Je nach Schätzung würden mehrere Hundert bis mehrere Tausend Fälle auf diese Weise entschieden. Vor allem beim Scheidungsrecht sähen Frauen durch die Scharia-Gerichte eine Möglichkeit, Druck auf ihre Ehemänner auszuüben: "Willigt der Mann nicht in die Scheidung ein, kann ihn der Schariarichter dazu auffordern, seine Frau nach islamischer Tradition zu verstoßen." Das bedeute aber nicht, dass die Scharia-Gerichte für Frauen generell von Vorteil wären: "Körperliche ‚Züchtigung‘ der Ehefrau durch den Ehemann ist kein Grund für eine Scheidung, daher wird das Gericht dem Scheidungswunsch der Frau meist nur entsprechen, wenn es wirklich um Misshandlung geht."
"Friedensrichter" als Instanz zwischen Staat und Straftäter
Die Rechtsauffassung der inoffiziell tätigen Friedensrichter gehe oftmals nicht nur an der des deutschen Staates vorbei, sondern stehe auch in direktem Gegensatz zu dessen Rechtsauffassung. "Die Anzeige einer Straftat bei der Polizei gilt in manchen Migrantenkreisen als Zeichen der Schwäche", sagte Schirrmacher, "ein Opfer, das eine Tat nicht sühnt, gilt nicht als friedfertig, sondern als Schwächling und wird verachtet". Einige der Friedensrichter würden sich weniger auf die islamische Rechtsordnung, als vielmehr "nahöstliches Gewohnheitsrecht" berufen. "In jedem Fall wird das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen, noch dazu von Friedensrichtern, die zuweilen ganz eigene Interessen im Drogen- oder Rotlichtmilieu haben."
Schirrmacher führte aus, warum diese "extra-legale Rechtsprechung" von den Behörden geduldet wird: "Viele Richter und Staatsanwälte haben eine sehr hohe Arbeitsbelastung. Wenn Zeugen ganz plötzlich ihre Aussagen ändern oder ihr Gedächtnis verlieren, dann gehen sie dem nicht immer nach."
Bis zu 15 Prozent der Muslime gehen zum Friedensrichter
Ein Grund für den Erfolg von Friedensrichtern in Deutschland sei mangelnde Integration und ein geringes Vertrauen in die deutsche Justiz. Allerdings dürfe nicht vergessen werden, dass die Mehrheit der Muslime in Deutschland aus der Türkei stamme – und damit aus einem Land, das die Scharia abgeschafft hat. Verlässliche Zahlen über Scharia-Verfahren in Deutschland seien kaum zu bekommen. Der Integrationsbeauftragte von Berlin-Neukölln geht aber davon aus, dass in seinem Stadtteil 10 bis 15 Prozent der Muslime Streitigkeiten durch Friedensrichter beilegen lassen.
Die Islamwissenschaftlerin wünscht sich weitere Forschungsarbeiten zu diesem Thema. Dazu will Schirrmacher selbst beitragen: Der Vortrag über Scharia-Gerichte in Deutschland war ihre öffentliche Antrittsvorlesung zum Abschluss ihres Habilitationsverfahrens an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn. Schirrmacher lehrt seit 2012 am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität und ist darüber hinaus wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Islamfragen der Evangelischen Allianz in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie ist Sprecherin und Beraterin der Weltweiten Evangelischen Allianz für Islamfragen und Professorin für Islamische Studien an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Leuven (Belgien). Sie ist mit dem Religionswissenschaftler Thomas Schirrmacher verheiratet. (pro)